Alberto Giacometti

Sep 09, 2001 at 00:00 4798

Retrospektive und Katalog zum 100. Geburtstag im Kunsthaus Zürich und im Museum of Modern Art in New York. Die Biographie von James Lord, die Fotos von Ernst Scheidegger, der Film von Heinz Bütler.

Am 3. Februar 2010 verkaufte Sotheby’s London L’homme qui marche – ein Bronzeguss von 1960 – von Alberto Giacometti für £65 Millionen. Damit ist es die teuerste je verkaufte Skulptur der Welt.

Der 1901 geborene Alberto Giacometti gehört zu den herausragenden Künstlern des 20. Jahrhunderts. Die Retrospektive im Kunsthaus Zürich, die danach im MoMA in New York zu sehen sein wird, trägt diesem Fakt mit 190 Werken des Künstlers Rechnung. Es lohnt sich allerdings auch, einen Blick in die Sammlung des Kunsthauses zu werfen. Dort sind Teile der 1965 gegründeten Alberto Giacometti-Stiftung weiterhin gesondert zu sehen. Die Stiftung umfasst insgesamt 72 Skulpturen, 17 Gemälde und 62 Zeichnungen. Einige Werke wurden von Alberto selbst, andere von seinem Bruder Bruno der Stiftung geschenkt.

In Zürich gehört das surrealistische Hauptwerk Palais à quatre heures du matin von 1932 zu den Höhepunkten der Ausstellung 2001 (siehe das Foto rechts oben). Die ursprüngliche Gipsskulptur wurde zerstört und ist uns nur durch die Fotos von Man Ray überliefert. Die Holzausführung dagegen wurde bereits 1936 von Alfred Barr für das Museum of Modern Art in New York erworben; für die Zürcher Retrospektive durfte es erstmals das MoMA verlassen. Palais à quatre heures du matin ist übrigens das erste Werk von Giacometti, das von einem Museum angekauft wurde.

In der Schweiz, seinem Heimatland, wurde Alberto dagegen lange verkannt. Erst spät versöhnte er sich mit dem Schweizer Kunstbetrieb, von dem er zuvor Demütigungen erfahren hatte. Bei der Schweizerischen Landesausstellung vom Sommer 1939 wollte er eine winzige Gipsfigur, gut fünf Zentimeter hoch, präsentieren. Sein Ansinnen wurde abgelehnt. Ein Architekt meinte gar, das käme einer Beleidigung der anderen Künstler gleich. Giacometti empfand dies als Affront, gab aber für einmal nach. So wurde der Bronzeguss einer abstrakten Plastik von 1934 nach Zürich geschafft und auf den Sockel gestellt, auf dem Alberto eigentlich seine künstlerisch wegweisende Kleinstskulptur hatte ausstellen wollen.

Bereits 1929 hatte Michel Leiris in einem Aufsatz in Georges Batailles Zeitschrift Documents Giacometti hervorgehoben und so die Aufmerksamkeit der Surrealisten auf ihn gelenkt. Herausragende Bedeutung für die internationale Anerkennung Albertos kommt jedoch erst der Einzelausstellung von 1948 in der New Yorker Galerie von Pierre Matisse sowie Jean-Paul Sartres dazu verfasstem fast zehnseitigen Aufsatz The search for the absolute zu. 1939 hatten Simone de Beauvoir, Sartre und Giacometti Bekanntschaft geschlossen und sich danach regelmässig getroffen. Die Begegnung mit Giacometti war gemäss James Lord auch für Sartre fruchtbar, denn nicht lange danach entstand sein Hauptwerk L’Etre et le Néant (Das Sein und das Nichts). Allerdings entstanden erst nach dem Zweiten Weltkrieg die ersten für Giacometti so bezeichnenden dünnen und zerbrechlichen Figuren. Sartre sah darin einen Ausdruck des von ihm vertretenen Existenzialismus. In New York wurden 1948 nun diese charakteristischen Skulpturen erstmals dem amerikanischen Publikum präsentiert und begründeten seinen Ruhm. Dort lernte Giacometti übrigens nicht nur den einflussreichen Kunstkritiker David Sylvester, sondern auch seinen späteren Biographen James Lord kennen.

Albertos Werk ist vom Kubismus, vom Surrealismus, vom Existentialismus und den Fragen um die condition humaine sowie von der Phänomenologie beeinflusst. Tobia Bezzola betont in seinem Katalogbeitrag zur Retrospektive 2001 in Zürich und New York die Bedeutung der Phänomenologie für Alberto. Der Ansatz ist nicht neu. Bereits James Lord verwies in seiner erstmals 1983 erschienen Giacometti-Biographie darauf, dass Giacomettis Werk für den Philosophen Sartre phänomenologische Bedeutung hatte und dass für Alberto selbst die Quintessenz seiner Genfer Jahre „die phänomenologischen Lektionen“ waren, die ihn dazu brachten, die sich aus seiner Sicht der Wirklichkeit ergebenden Formen seiner Skulpturen zu akzeptieren.

Die Ausstellungsmacher 2001 betonen die Kontinuität im Schaffen von Alberto. Seine kubistischen und surrealistischen Werke, als Beispiel die berühmte Löffelfrau von 1927, stehen bereits ganz im Zeichen von Giacomettis lebenslanger Beschäftigung mit der Frau und dem weiblichen Körper. Alberto besuchte übrigens jahrlang Bordelle. Die Phänomenologie, die Lehre von der Entstehung und der Form der Erscheinungen im Bewusstsein beschäftige Giacometti zeitlebens. Nicht unbedingt in theoretisch-philosophischer Form, sondern in der praktisch-künstlerischen Suche nach einer Wesensform. Das kam nicht von ungefähr, denn Giacometti litt am zumeist erfolglosen Versuch, das Sichtbare festzuhalten.

Das Schlüsselerlebnis kam für Alberto nach Kriegsende in einem Pariser Kino, als er anstelle einer Person unbestimmte schwarze Flecken wahrnahm. Plötzlich nahm er seine Umgebung neu war, so auch als er aus dem Kino auf den Boulevard Montparnasse hinaustrat. Die Raumtiefe, die Dinge, die Farben, die Stille, alles habe er neu erfahren. Er begann, Köpfe im Leeren zu sehen, im Raum, der sie umgibt. Der Kopf erstarrte, wurde unbeweglich. Alle Lebenden waren tot.

Der kommerzielle Erfolg Giacomettis stellte sich nach der zweiten New Yorker Ausstellung im November 1950 ein, bei der alle grossen Plastiken der letzten Jahre gezeigt und auch verkauft wurden. Dazu kamen noch Gemälde und Zeichnungen. Alberto erlebte allerdings im Gegensatz zu vielen anderen Künstlern im Alter keinen Karriereknick, weder künstlerisch noch kommerziell. Im Gegenteil. Sein Ruhm mehrte sich bis zu seinem Tod 1966. Er lebte allerdings bescheiden weiter. Seine Frau Annette dagegen kaufte sich eine Wohnung und wollte die Früchte der Arbeit geniessen. Doch Giacometti war nicht daran interessiert, seine Lebensumstände zu verbessern. So kam es zu einem langsames Zerwürfnis der Ehepartner.

Alberto war ein ewig Suchender, der nie das gemacht hat, was er eigentlich wollte. Da seine Versuche immer gescheitert seien, habe er es immer wieder erneut versucht, zu einer gültigen Form zu kommen. Zugleich wollte er sich nicht beständig wiederholen. Doch sein Werk zeigt eben gerade für uns bestimmte Formen, die wir als endgültige Antworten des Künstlers betrachten und die alle ähnlich sind, auch wenn Giacometti selbst es nicht so gesehen hat. Alberto war gleichzeitig vom Glauben getrieben, Morgen würde er finden, was er suchte – und das jahrzehntelang. Seine letzten Worte waren gemäss James Lord sinnigerweise: „A demain“ (Bis Morgen).

James Lord hatte Giacometti einst gefragt, ob er an Selbstmord denke. Die erstaunliche Antwort des Künstlers war: „Jeden Tag.“ Er dachte daran, sich mit Benzin zu übergiessen und anzuzünden. Seine Frau Annette konnte es nicht mehr hören und meinte: „Tue es oder hör auf, davon zu jammern.“

Giacometti stand  vor seinem Tod bereits einmal am Abgrund, konnte jedoch von einem Magenkrebs geheilt werden. Doch Alberto litt auch an einer chronischen Bronchitis, die immer stärker wurde. Doch zu einem konsequenten Angehen dagegen konnte er sich nie durchringen. Dadurch wurde sein Herz geschädigt. In Verknüpfung mit seinem Zigarettenkonsum führte dies zum Tod, den einige gar als langsamen und unausweichlichen Selbstmord deuten.


Der Katalog zur Ausstellung im Kunsthaus Zürich und danach im MoMA, hg. von Christian Klemm et al.: Giacometti. Deutsche Version bestellen bei Amazon.de. Englische Version bestellen bei Amazon.deAmazon.comAmazon.co.uk.


Ernst Scheidegger: Spuren einer Freundschaft – Alberto Giacometti. Scheidegger & Spiess, Neuauflage 2013. Die eindrücklichen Fotos von Ernst Scheidegger zeigen den Künstler im Kreise seiner Familie und bei der Arbeit sowie sein ärmliches Atelier und seine Werke. Der Band endet mit Fotos vom Sarg Giacomettis und vom Friedhof St. Giorgio, auf dem Alberto ruht. Bestellen bei Amazon.de.


Die deutsche Version der Biographie von James Lord: Alberto Giacometti, Neuauflage 2004, Scheidegger & Spiess. Bestellen bei Amazon.de. Die englische Version, Reprint edition, bestellen bei Amazon.deAmazon.fr, Amazon.com.

Neu 2009: Ausstellung in der Fondation Beyeler: Giacometti, Hatje Cantz, 2009, 224 p., 194 Photos. English edition: Amazon.comAmazon.deAmazon.fr,Amazon.co.uk. Die deutsche Ausgabe bestellen bei Amazon.de.

Bei NZZ Television ist der Film von Heinz Bütler Alberto Giacometti – Die Augen am Horizont auf DVD erschienen. Gestützt auf die Ecrits von Giacometti und mit Hilfe von Interviews mit Weggefährten und Zeitzeugen wie Balthus, Ernst Beyeler oder Werner Spies zeichnet Bütler in knapp einer Stunde ein skizzenhaftes Bild des Künstlers. Zudem enthält die DVD gut 25 Minuten, in denen der Giacometti-Biograf James Lord aus dem Leben des Künstlers erzählt. Zu bestellen bei der Neuen Zürcher Zeitung.

Die Ausstellung im Kunsthaus Zürich endet am 9. September 2001. Vom 11. Oktober 2001 bis am 8. Januar 2002 ist sie im Museum of Modern Art in New York zu sehen.

Artikel vom 9. September 2001. Die Info zum Auktionspreis von L’Homme qui marche von 2010 zu Beginn des Artikels hinzugefügt am 6.2.2010. Artikel hinzugefügt zu unseren Seiten im neuen Design 2019.