Erich Honecker

Mai 05, 2003 at 00:00 3244

Biografie von Erich Honecker basierend auf dem Buch von Norbert F. Pötzl

Altkanzler Helmut Schmidt sagte über ihn: „Mir ist nie klar geworden, wie dieser mittelmässige Mann sich an der Spitze des Politbüros so lange hat halten können.“ Dieser Frage geht auch der Journalist Norbert F. Pötzl, der einst Stasi-Verbindungen von Manfred Stolpe und Gregor Gysi aufgedeckt hat, in seiner Honecker-Biografie (Amazon.de) nach. Nach der Lektüre der 384 Seiten hat der Leser zwar einige, aber keine völlig befriedigenden Antworten gefunden. Das liegt weniger am Biografen als vielmehr am DDR-System und an Erich Honecker. Wie der intellektuell von seinem Amt überforderte und rhetorisch limitierte ehemalige Dachdeckergehilfe, der seine Lehre nicht abschloss, an die Macht kommen und sich dort von 1971 bis 1989 halten konnte, bleibt teilweise ein Rätsel, auch wenn Pötzl einige überzeugende Erklärungen liefert.

Der 1912 in Neunkirchen, der zweitgrössten Stadt des Saarlandes geborene Honecker wurde bereits mit zehn Jahren von seinem Vater, einem Bergmann, in die regionale kommunistische Kindergruppe geschickt. Als umtriebiger Agitator wurde er vom Kommunistischen Jugendverband Deutschlands an die Schule der Kommunistischen Jugendinternationalen in Moskau delegiert, wo er vom August 1930 bis im Frühsommer 1931 fast ein Jahr lang Kurse besuchte, die in der Muttersprache der Schüler gehalten wurden. Kontakt mit Russen gab es kaum.

Im Sommer 1931 kam Honecker zusammen mit 27 anderen deutschen Jungkommunisten in einer internationalen Stossbrigade zu einem mehrwöchigen Arbeitseinsatz im südlichen Uralgebirge. Es galt, ein metallurgisches Kombinat zu errichten, das zu jenen ökonomisch unsinnigen und sozial fragwürdigen Monumentalbauten gehörte, die Stalin 1928 in seinem ersten Fünfjahresplan durchgesetzt hatte. Honecker schwärmte später von den „russischen Volksliedern und Liedern der Revolution“, die nach getaner Arbeit „durch die Steppe [klangen].“ Dabei verdrängte er das Schicksal der rund 50,000 Häftlinge, die in der Nähe der Baustelle als Zwangsarbeiter dahinvegetierten und deren Gesundheit beim Bau ruiniert wurde.

1933 wurde Honecker Teil des Widerstandes im Ruhrgebiet gegen die Diktatur. Er setzte sich für die Sammlung aller antifaschistischen Kräfte ein. Im Saarland agierte der spätere SPD-Spitzenpolitiker Herbert Wehner, damals Kandidat des KPD-Politbüros und ab 1930 KPD-Abgeordneter im sächsischen Reichstag, als einer der Baumeister der antifaschistischen Einheitsfront. Das sich im Untergrund befindende KPD-Politbüro sandte Honecker im Herbst 1934 zurück ins Saargebiet, wo er zusammen mit Wehner im Vorfeld der Abstimmung zum Anschluss der Saar an das „Reich“ die Provinz bereiste. Doch nicht einmal 10% der Bevölkerung stimmten für den von der KPD vertretenen Status quo. Honecker ging nach Paris ins Exil.

Zurück in Deutschland, erwischten ihn die Nazis 1935 und steckten ihn ins Zuchthaus, wo er bis 1945 blieb. Nach dem Krieg wurde er, der nur acht Jahre Volksschulausbildung hatte, mit dem Aufbau der 1946 gegründeten kommunistischen Jugendorganisation FDJ betraut. Als am 16. Juni 1953 eine Mehrheit im SED-Politbüro gegen Ulbricht aufbegehrte, stand nur zwei Mann zum Parteichef. Einer davon war Honecker. Gemäss Pötzl wäre Honecker wohl mit Ulbricht untergegangen, wenn nicht der Arbeiteraufstand vom folgenden Tag dazwischen gekommen wäre, auf den die Sowjets mit Panzern antworteten. Doch bereits im Juli wackelte Ulbrichts Stuhl erneut. Und wieder standen ihm nur die zwei gleichen Männer, also auch Ulbricht, zur Seite. Dann fiel Berija in Russland und Ulbricht konnte nochmals Zeit gewinnen. Er liess einige Kritiker kaltstellen.

Honeckers Stellvertreter und engster Mitarbeiter flüchtete in den Westen. Zudem kam eine grosse Zahl von FDJ-Karteileichen zum Vorschein. Der Mitgliederschwund und die Flucht des Mitarbeiters liessen das Politbüro die FDJ durch eine Kommission zu durchleuchten. Honecker Verbleib im Politbüro wurde von Grotewohl in Frage gestellt. Ulbricht delegierte daraufhin Honecker an die Parteihochschule der KPdSU nach Moskau. Das war allerdings nicht wirklich eine Strafe, sondern bedeutete die Vorbereitung auf höhere Aufgaben. Bis im Mai 1955, als er schon 43 war, amtete Honecker noch als Chef der FDJ.

Honecker konnte kaum russisch, studierte aber in Moskau. Bentzien sollte ihm Nachhilfeunterricht geben. Doch das half nichts, da Honecker selbst Grundkenntnisse des Deutschen fehlte. Er gab daher das Studium der russischen Sprache auf. Dennoch absolvierte er das Studium mit positiver Abschlussbeurteilung. Kaum war er zurück in Berlin, ernannte ihn Ulbricht 1956 zum ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen. Er war zuständig für die Nationale Volksarmee, die Polizei und die Staatssicherheit.

Die Unruhen in Polen und Ungarn im Herbst 1956 lieferten Ulbricht den Vorwand, die drohende „Konterrevolution“ in der DDR zu bekämpfen. Zusammen mit Honecker ging er gegen innerparteiliche Gegner und kritische Intellektuelle vor. In einem fast zwei Jahre dauernden Machtkampf zwischen Ulbricht/Honecker und Schirdewan/Wollweber, wobei Mielke Ulbricht/Honecker ständig Informationen über Wollebers vertrauliche Kontakte lieferte und den Stasi-Chef als „Alkoholiker“ denunzierte. Das MfS wurde der Aufsicht des ZK-Sekretärs Honecker unterstellt. Als Aufpasser installierte dieser zwei alte Kumpel. Im Februar wurden Wollweber, Schirdewan und Oelssner als „Parteifeinde“ aus dem ZK ausgeschlossen. Honecker hielt die Anklagerede. Dafür belohnte ihn Ulbricht mit der Vollmitgliedschaft im Politbüro.

Honecker wachte darüber, dass keine neue Opposition aufkam und gab die Parole heraus: „Wer Walter Ulbricht angreift, greift die Partei an.“ Aus Sicherheitsgründen zog zog fast das gesamte Politbüro im Sommer 1960 in die Waldsiedlung Wandlitz nördlich von Berlin um. Honecker war als ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen Ende der 1950er Jahre mit entsprechenden Planungen beauftragt worden.

Zu Beginn der 1960er Jahre verschärfte sich das Problem der „Republikflüchtlinge“. Menschen, die nach politischen, persönlichen und beruflichen Freiheiten strebten, erlagen in steigender Zahl den Verlockungen des kapitalistischen Westens. Ulbricht bedrängte Chruschtschow, die Abwanderung müsse durch eine wirksame Grenzsicherung unterbunden werden. Am 16. März 1961 legte er dem ZK der SED erstmals sein Vorhaben vor, das die Schliessung der Berliner Sektorengrenze vorsah. Ein Haupteinsatzstab unter der Leitung von Honecker wurde gebildet. Damals galt noch Alfred Neumann als Kronprinz Ulbrichts, doch Honecker begann sich nun Hoffnungen zu machen, einst Ulbricht beerben zu können. Am 13. August 1961, um 1 Uhr früh, war es soweit: Der Mauerbau begann. Kennedy, McMillan, de Gaulle und Adenauer reagierten nicht (sofort). Einzig Berlins Regierender Bürgermeister Willy Brandt, Kanzlerkandidat der SPD, brach seine Wahlkampftour in Westdeutschland ab und stand am selben Abend vor dem Brandenburger Tor. Bis 1989 sollten an der Mauer fast tausend Menschen zu Tode kommen. Honecker war der Erbauer und Gestalter des Todesstreifens, ohne den an der Grenze nichts ging. Am 20. September 1961 gab er seinem Zentralen Stab den Befehl: „Gegen Verräter und Grenzverletzer ist die Schusswaffe anzuwenden.“ Am 3. Mai 1974 fasste Honecker die gängige Praxis als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates mit den Worten zusammen, die als der „Schiessbefehl“ gelten: „Nach wie vor muss bei Grenzdurchbruchsversuchen von der Schusswaffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden, und es sind die Genossen, die die Schusswaffe erfolgreich angewandt haben, zu belobigen.“

Ab 1963 ging Honecker, der bis dahin treue Gefolgsmann, auf einen zunächst verdeckten, später immer offeneren Konfrontationskurs zu Ulbricht, vor allem in der Deutschland-, der Kultur- und der Wirtschaftspolitik, vor allem aus Machtstreben und Lust am Widerspruch, denn später, als er selbst an der Macht war, griff er die Politik seines Vorgängers in diesen Bereichen wieder auf: die Gesprächsbereitschaft gegenüber der Bonner Regierung, die Liberalisierung der Kunst und die Öffnung zur Marktwirtschaft. Einen Verbündeten fand Honecker in Günter Mittag, selbst ein Protégé von Ulbricht.

Ulbricht entgingen Honeckers Absetzungsversuche nicht. Im Frühjahr 1963 kritisierte er Honecker erstmals scharf und öffentlich, indem er die Jugendpolitik der FDJ und ihren „administrativen Stil, den die Jugend nicht versteht“, bemängelte. Während einer urlaubsbedingten Abwesenheit Honeckers entmachtete Ulbricht dessen Vertrauten Paul Verner als Leiter der Jugendkommission.

1961 hatte Chruschtschow in der Sowjetunion Reformen eingeleitet. In der Kubakrise im Jahr darauf hatte seine Machtstellung allerdings stark gelitten. Ulbricht setze allerdings immer noch voll auf Chruschtschow, mit dem er 1942 in Stalingrad das Weihnachtsfest gefeiert hatte. Leonid Breschnew entwickelte sich in der UdSSR zum zweiten Mann im Staat. 1964 kam er in die DDR, wo er von Ulbricht bedrängt wurde, der ihm darlegen wollte, was in der Sowjetunion alles falsch und wie vorbildlich die DDR sei. Nach dem Essen schützte Breschnew Unwohlsein vor. Der wütende Ulbricht sandte am darauffolgenden Tag Honecker mit dem Russen auf die Jagd. Eine unbesonnene Entscheidung, denn das war der Beginn einer beinahe zwei Jahrzehnte dauernden Männerfreundschaft. Einen Tag bevor Chruschtschow am 16.Oktober 1964 gestürzt wurde, kündigte Breschnew dies Honecker telefonisch mit. Ulbricht dagegen erfuhr davon erst aus den Westnachrichten. Für Pötzl war das Nichterkennen der Allianz von Breschnew und Honecker „die wohl folgenschwerste Fehlleistung in Ulbrichts langem politischen Leben.“

Intellektuelle und Künstler empfanden die von Ulbricht 1963 vorsichtig verordnete Liberalisierung in der Jugend- und Kulturpolitik als „Wende von oben“ und „Tauwetter-Periode“. Älteren galt vieles, so die „Negermusik“ und die langen Haare, als dekadent. Honecker liess mit Hinblick auf die DDR die Jugendpolitik der UdSSR untersuchen und berief am 11. Oktober 1965 eine ausserordentliche Sitzung des ZK-Sekretariats „zu einigen Fragen der Jugendarbeit und dem Auftreten von Rowdy-Gruppen“ ein, mit dem Zweck, Kurt Tuba zu entmachten, was in der Folge auch geschah. Honecker gebärdete sich als Hardliner. Zu den von ihm attackierten Künstlern gehörten Wolf Biermann, Stefan Heym und Heiner Müller. Als Ulbricht Honeckers Strategie erkannte, schwenkte auch er um und entdeckte ein Komplott der Kulturfunktionäre gegen die DDR, sah die Konterrevolution keimen. Spielfilme und Theaterstücke wurden verboten. Kulturinstitutionen mussten Selbstkritik üben. Ulbricht war mit seinen bescheidenen Reformversuchen gescheitert.

Als 1966 in der BRD die Grosse Koalition an die Macht kam, startete der SED-Chef eine Friedensinitiative. Ulbricht schickte Ministerpräsident Stoph in die UdSSR, um Breschnews Plazet einzuholen. Doch der KP-Chef lehnte die Initiative ab, da er eigenmächtiges Handeln der SED in der Deutschlandfrage strickt ablehnte. Honecker, der Stoph begleitete, stimmte Breschnew zu.

Mit der 1969 gewählten sozial-liberalen Koalition kam eine grundsätzliche Neuorientierung der Bonner Ostpolitik. Am 19. März 1970 trafen sich Brandt und Stoph in Erfurt, am 21. Mai 1970 in Kassel. Gegenüber Honecker tadelte Breschnew Ulbrichts Deutschlandpolitik im Juli 1970. Ulbrichts Wirtschaftsreform war bereits Jahre zuvor an Honeckers Widerstand gescheitert. So auch die Jugend- und Kulturpolitik. Nun war die Deutschlandpolitik im Visier Honeckers, der mit Breschnews Rückendeckung agierte. Am 30. Juli 1970 berief daher der SED-Chef an seinem 77. Geburtstag eine ausserordentliche Politbürositzung für den folgenden Tag ein. Ohne Rücksprache mit Moskau wurde Honecker als Zweiter Sekretär des ZK der SED abgesetzt. Breschnew sandte seinen Botschafter, Abrassimow, zu Ulbricht, der den SED-Chef barsch aufforderte: „[…] Sie holen das Politbüro zusammen und richten alles wieder so her, wie es war.“ Am 7. Juli 1970 revidierte Ulbricht seine spektakuläre Entscheidung.

Gemäss Pötzl hatte Honecker von den gescheiterten Palastrevolutionen von 1953 und 1956 (Hernstadt und Schirdewan) gelernt, dass es galt, rasch zu handeln. Honecker musste sich bei Breschnew noch mehr anbiedern, doch dieser war noch nicht bereit, den Machtkampf zugunsten Honeckers zu entscheiden. Breschnew sondierte noch die Alternativen zu Honecker. Als sie von Abrassimov gefragt wurden, nannten Stoph und andere jedoch nur Honecker als in Frage kommend.

In der Sitzung des Politbüros vom 8. September 1970 trug Willi Stoph, in Abwesenheit von Ulbricht, eine vernichtende Kritik an dessen Wirtschaftspolitik vor. An der ZK-Tagung vom 9.-11. Dezember 1970 hielt sich Honecker taktisch geschickt erneut zurück und überliess Paul Verner und Willi Stoph die Aufgabe, die Wirtschaftspolitik zu kritisieren. Ulbricht gestand in seinem Schlusswort Fehler bei der Planung ein, versuchte aber, sich zu rechtfertigen. Die gesamte SED-Spitze lehnte es jedoch ab, Ulbrichts Schlusswort wie gewohnt zu veröffentlichen. Der Parteichef wurde so schwer gedemütigt. In seiner Neujahransprache versuchte Ulbricht nochmals, die Initiative zurückzugewinnen, indem er der sozial-liberalen Koalition in Bonn öffentlich Verständigungsbereitschaft signalisierte. Diese Eigenmächtigkeit war für Honecker zuviel. Er wandte sich in einem zusammen mit dem ZK-Abteilungsleiter für Agitation, Werner Lamberz, entworfenen Brief an Breschnew, worin sie Ulbrichts Ablösung forderten. Auf Honeckers drängen hin unterschrieben 13 von 20 Mitgliedern und Kandidaten des Politbüros das Schreiben, das am 21. Januar 1971 bei Breschnew einging. Doch der nahm sich Zeit. Erst am 11. April 1971, am Rande eines KPdSU-Parteitags, führte der Kremlchef einzeln Gespräche mit Ulbricht und Honecker.

Einige Tage später brachte Lamberz die Nachricht aus Moskau mit: „Es ist beschlossen.“ Honecker eilte sofort mit seinen mit Maschinenpistolen bewaffneten Personenschützern in Ulbrichts Ferienhaus, wo er Tore und Ausgänge besetzen und die Telefonverbindungen kappen liess. Nach einem eineinhalbstündigen Gespräch unterschrieb Ulbricht sein Rücktrittsgesuch. Am 27. April 1971 verkündete Ulbricht im Politbüro in einem mit Moskau abgestimmten Text seine Abdankung. Honecker wurde am 3. Mai 1971 vom Zentralkomitee zum Ersten Sekretär gewählt. Staatsratsvorsitzender durfte er damals noch nicht werden, da die KPdSU eine Ämterhäufung und Machtfülle wie bei Ulbricht verhindern wollte. Gemäss Breschnew sollte Ulbricht Mitglied des Politbüros und Staatsratsvorsitzender bleiben. Ein Foto zum 78. Geburtstag zeigte Ulbricht in Hausmantel, Trainingshose und Pantoffel in einem Ohrensessel sitzend, wie er die Glückwünsche von Honecker entgegennahm. Das Foto sollte die Gebrechlichkeit Ulbrichts vor Augen führen. Der alte Mann verstarb am 1. August 1973.

In den „goldenen siebziger Jahren“ hatte Wohnungsbau für Honecker oberste Priorität. Er versprach, bis 1990 die Wohnungsfrage durch 2,8 bis 3 Millionen Neuwohnungen zu lösen. An Qualität und Ästhetik wurden keine hohen Anforderungen gestellt. So entstanden die „Arbeiterschliessfächer“ und „Schnarsilos“, wie sie im Volksmund genannt wurden, aus industriell vorgefertigten Elementen und genormten Teilen. Honecker sah darin einen grossen Erfolg. Doch als er am 12. Oktober 1988 einem verdienten Werktätigen die angeblich dreimillionste Wohnung übergab, waren in Tat und Wahrheit erst 1,9 Millionen Wohnungen neu gebaut oder vollständig saniert worden.

Der bescheidene „Wohlstand“ hatte den Hacken, dass sich die Konsumschraube nicht zurückdrehen liess. Im Sommer 1977 kam es bei der „Kaffeekrise“ zu einem „veritablen Verbraucheraufstand“, bemerkt Pötzl. Als die Weltmarktpreise für Kaffee in den Himmel schossen, konnte die DDR nicht mehr die gewohnten Quantitäten kaufen und produzierte deshalb einen mit Zichorie, Spelzen, Roggen, Gerste und getrockneten Zuckerrübenschnitzeln gestreckten Muckefuck unter dem Namen „Kaffee-Mix“, der von der Bevölkerung als „Erichs Krönung“ verspottet wurde. Zudem ruinierte das ungeniessbare Gebräu die Kaffeemaschinen in Grossküchen und Gaststätten. Auf die Kaffeekrise folgte ein „Bettwäschekrieg“. Um an der Preisschraube drehen zu können, sorgte das Ministerium für Handel und Versorgung dafür, dass die Erzeuger neue Produkte in anderer Verpackung oder unter anderem Namen produzierten. Als Gerüchte von höheren Preisen für Baumwollerzeugnisse kursierten, kam es zu Hamsterkäufen. Zucker, Mehl, Kakao, Zigaretten und andere Produkte wurden von den DDR-Bürgern sofort gehortet, sobald Teuerungen angesagt wurden.

Honecker beendete definitiv die Wirtschaftsreformen der sechziger Jahre mit ihren marktwirtschaftlichen Ansätzen. Er schaffte die Privatbetriebe weitgehend ab, also auch noch die letzten selbständigen Industrie- und Handelsbetriebe, die noch relativ rentabel arbeiteten. Den Abschluss dieser Phase meldete er Breschnew am 13. Juli 1972.

Die Intershops waren ab 1. Februar 1974 nicht nur für Westbesucher, sondern nun auch DDR-Bürgern zugänglich, sofern sie Devisen hatten. Das schuf eine Zweiklassengesellschaft. Damit setzte ein Run auf Westwaren ein, Ostprodukte wurden als minderwertig betrachtet. Im September 1977 sprach Honecker das Problem an. Die Intershops seien „kein ständiger Begleiter des Sozialismus“. Doch die zuletzt 450 Läden blieben bis zum Ende der DDR bestehen. Sie tarnten sich bis zum Schluss, indem sie schaufensterlos blieben.

Honecker versuchte neben dem materiellen auch das kulturelle Lebensniveau zu heben. Auf dem 4. Plenum des ZK der SED im Dezember 1971 kündigte er den kulturellen Frühling an. Volker Brauns Unvollendete Geschichte sowie drei bis dahin unveröffentlichte Romane von Stefan Heym durften danach erscheinen. Günter Kunert und Stephan Hermlin waren wieder gelitten. Erstaunlich, wenn man bedenkt, das Honecker 1965 die oben erwähnten Attacken gegen die Kulturschaffenden geritten hatte. Doch bereits im November 1976 ging es mit der Aufbruchstimmung zu Ende. Pötzl nennt die dem Liedermacher Wolf Biermann verweigerte Rückkehr nach einem Konzert in Köln und die damit verbundene Ausbürgerung als den „grössten taktischen Fehler“ der Parteiführung; Biermann war bereits 1963 aus der SED ausgeschlossen und zwei Jahre später mit Auftritts- und Publikationsverbot belegt worden.

1976 kam es also zum endgültigen Bruch zwischen den Intellektuellen und der Partei. Dabei gab es gar eine Verbindung von Margot Honecker zu Wolf Biermann: Der Frau des SED-Chefs war einst in einem Akt „roter Solidarität“ von Biermanns legendärer „Oma Meume“ geholfen worden, als Margots und Biermanns Vater von den Nazis verfolgt wurden. Margots Vater überlebte die Haft, Biermanns Vater wurde in Auschwitz ermordet.

Gemäss eigener Aussage traf sich Biermann viermal mit Margot Honecker in deren Büro, nachdem sie 1964 Volksbildungsministerin geworden war. 1965 kam sie gar einmal in seine Wohnung, um ihm mitzuteilen: „Wolf, komme zur Vernunft! Hör auf mit solchen Liedern! Das geht zu weit. Wenn du bloss zur Vernunft kämest – du könntest unser bester Dichter sein.“

Nach Biermanns Ausbürgerung verfassten bzw. unterschrieben zwölf bekannte DDR-Autoren sowie der Bildhauer Fritz Cremer am 17. November 1976 einen offenen Brief an den Generalsekretär. Der sozialistische Staat müsse Biermanns kritische Lieder „gelassen nachdenkend ertragen können“. Biermann habe „nie, auch nicht in Köln, Zweifel daran gelassen, für welchen der beiden deutschen Staaten er bei aller Kritik eintritt.“ Die Künstler protestierten gegen die Ausbürgerung und baten darum, „die beschlossene Massnahme zu überdenken“. Den offenen Brief übergaben die Unterzeichner dem Neuen Deutschland sowie, mit einer Sperrfrist von drei Stunden, der französischen Nachrichtenagentur AFP. Honecker konnte, selbst wenn er gewollt hätte, nicht frei entscheiden, da die Westmedien die Nachricht bereits verbreiteten, als er das Papier nach dreieinhalb Stunden in der Hand hielt. Den 13 Erstunterzeichnern schlossen sich bis Ende November 1976 weitere 93 Künstler an. Ein kultureller Exodus begann. Hunderte von Intellektuellen beantragen Ausreiseanträge. Viele emigrierten, nach teilweise langen Wartezeiten, in den Westen.

Das Politbüro tagte einmal wöchentlich, dienstags um 10 Uhr. Es galt als ungehörig, Fragen ausserhalb der Tagesordnung aufzuwerfen, ohne sie vorher mit dem Generalsekretär abgestimmt zu haben. Auf die Tagesordnung kam lediglich, was Honecker für wichtig hielt. Ins Zentralkomitee, wo gemäss Alexander Schalck-Golodkowski die Macht lag, kamen nur Leute von Honeckers Gnaden, die ihm gegenüber absolut loyal waren. Durch Ämterpatronage konzentrierte er die Macht bald auf sich. Die Generalsekretäre der wichtigsten ZK-Abteilungen waren ihm unterstellt. So die Kaderabteilung, wodurch Honecker die Personalvorschläge kontrollieren konnte. Bis zum Herbst 1989 war deshalb seine Position nie gefährdet. Egon Krenz bemerkte im nachhinein, dass Honecker „nicht die intellektuelle Grosse hatte, um das Land als Staatsoberhaupt zu führen.“ Aber keiner habe ihm ernsthaft Paroli geboten.

Gemäss Pötzl beruhte Honeckers Macht auf drei Säulen: Der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, dem Überwachungsapparat, der seine vorsichtige Liberalisierung in kontrollierten Bahnen halten sollte, sowie der Verkündigung seiner erfolgreichen Politik. Deshalb hielt er besonders enge Beziehungen zu dem für die Wirtschaft zuständigen Günter Mittag, dem Minister für Staatssicherheit Erich Mielke und dem Propagandachef Joachim Herrmann.

„Mittag war Honeckers Mephisto, ihm hatte der Wirtschaftslaie seine Seele verkauft […].“ Mit seinem Fehlurteil, Mittags Sachverstand zu überschätzen, sei Honecker nicht alleine gewesen, so Pötzl, auch der Westen sei geblendet gewesen. Helmut Schmidt habe ihn für „einen der fähigsten Kommunisten in Ost-Berlin“ gehalten, weil „der etwas von Ökonomie versteht.“

Die Staatsicherheit, als „Schild und Schwert der Partei“, wurde unter Honecker kräftig aufgerüstet, von 45,500 hauptamtlichen Kräften bei Machtantritt auf 91,015 hauptamtliche und 173,000 inoffizielle Mitarbeiter Ende der achtziger Jahre. Somit kam rein rechnerisch ein hauptamtlicher Stasi-Mann auf 180 DDR-Bürger und auf knapp 100 ein heimlicher Spitzel.

Propagandachef Joachim Hermann war ein ungelernter Transportarbeiter, den Honecker als FDJ-Chef, der als Bote bei der Berliner Zeitung angefangen hatte, zum Chefredakteur der FDJ-Zeitung Junge Welt gemacht. 1960 holte er ihn als Mitarbeiter ins ZK der SED und berief ihn 1962 zum Chefredaktor der Berliner Zeitung. Hermann war Honecker sklavisch ergeben, wie Karl Seidel, ehemaliger Abteilungsleiter der BRD im Aussenministerium, urteilt. Honecker dirigierte die staatlichen Medien durch persönliche Anweisungen an seinen Propagandachef, der ihm jeden Mittag die Schlagzeilen der nächsten Ausgabe des Neuen Deutschland zur Genehmigung vorlegte.

Offizieller zweiter Mann in der Parteihierarchie war Paul Verner, den Honecker seit den dreissiger Jahren vom Saarland her kannte. Mit ihm zusammen gründete er nach dem Krieg die FDJ. Als Honecker Parteichef wurde, übernahm Verner seine Funktion als ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen. Als Verner 1984 aus gesundheitlichen Gründen aus Politbüro und Zentralkomitee ausschied, übernahm Egon Krenz seine Ämter. Von da an galt Krenz als Favorit für die Nachfolge Honeckers.

Willi Stoph war von 1964 bis in den Herbst 1989 Vorsitzender des Ministerrats, mit einer Unterbrechung von 1973 bis 1976. Er stand Honecker loyal gegenüber, solange der Generalsekretär das Vertrauen Moskaus besass. Als Honecker an die Macht kam, hatte Stoph darauf gedrängt, dass er sich um die Ökonomie kümmere und nicht über die anderen Politbüromitglieder erhebe. Honecker beherzigte beides nur zu Beginn, als er noch in die Betriebe ging und sich selbst vor Ort ein Bild machte. Doch bald verlor er die Bodenhaftung und den Sinn für die wirtschaftlichen Realitäten der DDR. Seine Herrschaft nahm despotische Züge an.

Als Krenz 1984 Honecker zu einem Gipfeltreffen des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe nach Moskau begleitete, gab es noch Hoffnung auf einen rechtzeitigen Regierungswechsel. Als der gebrechliche Chef der KPdSU, Konstantin Tschernenko, von Michail Gorbatschow gestützt in den Saal kam und danach seine Blätter mit der Rede zu Boden fielen, sagte Honecker zu Krenz: „Egon, so etwas darf uns nie passieren.“ Doch in den Jahren danach fehlte dem Generalsekretär die Einsicht, dass die Zeit zum Abtreten gekommen war.

Honecker führte in der Waldsiedlung der Parteibonzen im Bernauer Forst nördlich von Berlin ein spiessbürgerliches Leben. Sein Wohnhaus mit 250 Quadratmeter Wohnfläche war die Standardausführung im exklusiven Sammellager der Parteiprominenz, doch im Vergleich mit der durchschnittlichen Plattenbau-Mietwohnung bot es höchsten Luxus mit Sanitär- und Küchentechnik aus dem Westen. Den Führern der Arbeiterklasse standen in der Siedlung 641 Domestiken (Köche, Butler, Chauffeure und Bademeister) zur Verfügung. Honecker bezahlte lediglich 467 Mark Miete im Monat, alles inklusive, bei einem Verdienst von rund 8,000 Mark monatlich. Für seine Jagendleidenschaft liess sich Honecker allerdings vom Staat drei Jagdhäuser herausputzen, mit Schwimmbädern, Tennishallen, Schiessständen und Bootshäusern. Sein privater Fuhrpark bestand zeitweilig aus 14 Fahrzeugen, darunter zwei Range Rover und einige Mercedes-Geländewagen. Aus Schalcks KoKo-Kasse bezahlt wurde ein mit allem Schnickschnack ausgerüstetes Jagdfahrzeug, das in West-Berlin massgeschneidert und verlängert worden war, für stolze 290,000 DM.

Der biedere Honecker lebte zwei Jahre lang mit Edith Baumann ohne Trauschein zusammen, ehe sie 1949 heirateten. 1950 wurde die gemeinsame Tochter Erika geboren. Doch da hatte Erich bereits eine Affäre mit Margot Feist, die Ende 1952 die Tochter Sonja gebar. Erst auf Drängen des Parteivorstands willigte Edith in die von Honecker angestrebte Scheidung ein. Er heiratete Margot 1953. Die Parteileitung sorgte allerdings dafür, dass sie gleich nach der Hochzeit zu einem einjährigen Lehrgang an die Komsomol-Hochschule nach Moskau delegiert wurde. Bis 1964 galten die Honeckers als ideales Paar. Doch dann verliebte sich Margot in einen bekannten Schauspieler, von dem sie gemäss Ex-Kulturminister Hans Bentzien ein Kind bekam. Nur eine Aussprache im Politbüro, wo die Wahrung von Moral und Parteidisziplin gefordert wurde, verhinderte die Scheidung. Honecker soll auch eine Beziehung mit einer Prostituierten gehabt haben (nach Aussage derselben gegen Ende ihres Lebens).

Zu Honeckers Familienclan gehörten sein Schwiegervater Gotthard Feist, den er zu einem führenden Gewerkschaftsfunktionär machte. Seinen Schwager Manfred Feist beförderte er zum Leiter der Abteilung Auslandsinformation im ZK der SED und zum Mitglied des Präsidiums des DDR-Friedensrats. Spötter in der DDR kamen zum Schluss: Wie wird man, wenn man Honecker nahe steht? Antwort: Feist. Honeckers Frau Margot war seit 1963 Mitglied des ZK und seit 1964 Ministerin für Volksbildung, also lange vor Honecker Amtsantritt. Sie hielt sehr darauf, kein Anhängsel ihre Mannes zu sein. Sie spielte nie die First Lady, so Egon Krenz.

Nach seinem Amtsantritt 1971 schlug Honecker zuerst einen harten Kurs in der Strafrechtspolitik ein. Ende 1973 sassen deshalb rund 43,000 Häftlinge in DDR-Gefängnissen, so viele wie seit den fünfziger Jahren nicht mehr. Das lag vor allem daran, weil hart gegen „Asoziale“ und „Rowdys“ vorgegangen wurde. Auch nach der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte in Helsinki 1975 durften sich die DDR-Bürger keine grösseren Freiheiten herausnehmen. Die DDR-Führung versuchte im Gegenteil, mit einer Verschärfung der Gesetze den ansteigenden Ausreisebegehren einen Riegel zu schieben. Parallel mit der Ausbürgerung seines Freundes Wolf Biermann wollte die Stasi 1976 Robert Havemann ausweisen. Nur weil die SED über die Solidarisierung mit Biermann überrascht war, schreckte Mielkes Ministerium davor zurück, den Haftbefehl gegen Havemann zu vollstrecken. Stattdessen wurde er auf eine Datscha bei Berlin verbannt, die er nicht ohne Erlaubnis verlassen und wo er keinen ungenehmigten Besuch empfangen durfte. Weitere Schikanen folgten, um ihm „die DDR zu verekeln“, wie er selbst festhielt.

Die DDR verhängte in ihrer 40jährigen Geschichte 230 mal die Todesstrafe, die 163 mal vollstreckt wurde, davon 52 mal aus politischen Gründen. Während Honeckers Amtszeit als Parteichef kam es zu 18 Exekutionen. Von 1971 bis 1976, als er noch nicht Staatsoberhaupt war, gelangten die Gnadengesuche nicht an ihn. Danach war eine seiner ersten Massnahmen, wie er nach seinem Sturz bemerkte, die Mitteilung an die Generalstaatsanwaltschaft, dass er „nicht die Absicht habe, auch nur ein Urteil zu bestätigen“. Ob dem so war, ist nicht klar, da nach 1976 noch drei Menschen, alle waren Geheimdienstler, exekutiert wurden. Seit 1981 wurde die Todesstrafe auf Betreiben Honeckers nicht mehr vollstreckt. Doch erst 1987, vor Honeckers Besuch in Bonn, wurde der Paragraph aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Zu Wolfgang Vogel sagte Honecker nach seinem erzwungenen Abgang, dass er durch seine eigene Haftzeit in Brandenburg zum Gegner der Todesstrafe wurde: „Das Schrecklichste waren die Hinrichtungen in einer Garage unseres Zuchthauses.“

Nach vier Monaten im Amt feierte Honecker den Abschluss des „Vierseitigen Abkommens“, das die Botschafter der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges am 3. September 1971 paraphierten, wodurch gemäss Honecker die Westmächte erstmals „in völkerrechtlich gültiger Form die Existenz der DDR als eines souveränen Staates“ anerkannten und zustimmten, dass West-Berlin „kein Bestandteil der BRD ist und nicht von ihr regiert wird.“

Später kamen die deutsch-deutschen Gespräche ins Stocken. Franz Josef Strauss von der CSU drohte, den im Dezember 1972 unterzeichneten Grundlagenvertrag zwischen BRD und DDR, der vom Bundestag noch nicht ratifiziert war, durch eine Klage beim Bundesverfassungsgericht zu stoppen. Egon Bahr meinte, es müsse Schluss sein mit Gegenleistungen für die Ausreise von DDR-Bürgern in die BRD. Wehner war wütend, denn wie er befürchtet hatte, ordnete Honecker deshalb einen totalen Ausreisestop an. Zur Lösung dieser Probleme kam es Ende Mai 1973 bei einem Treffen zwischen Jugendfreunden: Der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Herbert Wehner reiste zu Honecker (zusammen mit dem Fraktionschef der Liberalen, Mischnick, um als ehemaliger Kommunist nicht noch mehr der Kungelei mit dem SED-Regime verdächtigt zu werden). Die Begegnung führte zur Lösung der „Kofferfälle“ (Menschen, die im Vertrauen auf die bereits erteilten Ausreisevisa Arbeitsplätze und Wohnungen gekündigt hatten und nun auf gepackten Koffern sassen). So kam es zum innerdeutschen Dialog unter Umgehung der Sowjetunion, was Brandt und Bahr bis dahin ausgeschlossen hatten. Angeregt worden war er von Honecker, „dem niemand soviel politische Kreativität zugetraut hätte“, bemerkt Pötzl. Der Anwalt Wolfgang Vogel wurde zum „persönlichen Beauftragten“ für die Westkontakte des SED-Chefs, zu einem geheimen diplomatischen Kanal zwischen BRD und DDR.

Ein Schatten viel auf Honeckers Glaubwürdigkeit, als der Referent von Kanzler Brandt, Günter Guillaume, als Spion verhaftet wurde. Honecker versicherte, Guillaume sei „abgeschaltet“ worden, als er im Kanzleramt Karriere machte, was der SPD-Fraktionsvorsitzende für eine Ausrede hielt. Egon Krenz dagegen ist „fest davon überzeugt, dass Honecker von Guillaume nichts wusste.“ Honecker habe ihm Jahre später gesagt, er habe nicht eingesehen, den Stasi-Minister Mielke und den Geheimdienstchef Wolf wegen einer Intrige des Bonner FDP-Innenministers Hans-Dietrich Genscher zu opfern. Pötzl verweist darauf, dass Genscher Beamte des Bundeskriminalamts und des Bundesamts für Verfassungsschutz in Brandts Privatleben herumschnüffeln und Frauengeschichten des Kanzler in Umlauf bringen liess. Genscher war als Innenminister zudem für Schlampereien und Versäumnisse bei der Überwachung des Spions verantwortlich, gegen den schon ein Jahr zuvor der erste Verdacht aufgekommen war. Für Honecker stürzte Brandt nicht über den Spionagefall, sondern über den Koalitionspartner. Noch 1976 ereiferte sich Honecker gegenüber Breschnew: „Genscher ist ein richtiger SA- und SS-Typ“, „ein mieser Kerl“, er stehe „der CDU näher“ als „der SPD“.

Honecker gegenüber kritisierte Wehner, dass Brandt von „schlechten Beratern irritiert“ werde, womit er den Ost-Unterhändler Egon Bahr und den ehemaligen Kanzleramtschef Horst Ehmke meinte. Brandts Politik sei bisweilen von „illusionären Absichten“ geleitet. In Bonn legte Wehner öfters ein gutes Wort für Honecker ein, der „weder ein Prahlhans noch ein Wichtigtuer“ sei. Dem zuerst argwöhnischen Egon Bahr gegenüber meinte er: „An den Händen dieses Mannes klebt kein Blut.“ Für Ehmke steht Wehners Loyalität zur BRD ausser Zweifel, aber „bei Brandt lag sie leider nicht immer“.

Pötzl zitiert Timothy Ash: „Trotz – oder vielleicht wegen – ihrer Gespräche in Helsinki hatte Helmut Schmidt eine ziemlich geringe Meinung von Erich Honecker.“ Der Autor klärt den Gegensatz zum obenstehenden Lob von Schmidt für Honeckers Wirtschaftskompetenz nicht auf. Kanzler Kohl, der Honecker erstmals 1984 traf, meinte später, er und Honecker hätten „trotz härtester politischer Gegensätze“ – es war die der Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in der BRD – „ein irgendwie menschliches, wenn auch seltsames Verhältnis zueinander“ gefunden. 1985 meinte der damalige SPD-Oppositionsführer im niedersächsischen Landtag und spätere Bundeskanzler, Gerhard Schröder, nach einem Gespräch mit Honecker, dieser sei „ein zutiefst redlicher Mann, vor dessen historisch bedeutender Leistung man Respekt haben“ müsse.

Die westdeutschen Politiker versuchten, Honecker für sich einzuspannen. So erwähnte Egon Bahr gegenüber Honecker im September 1986, eine von der SPD geführte Regierung werde „voll die Staatsbürgerschaft der DDR respektieren“, wenn die DDR den von westlicher Seite nicht zu kontrollierenden Zustrom tausender Asylbewerber über den DDR-Flughafen Schönefeld nach West-Berlin unterbinde. Zuvor war bereits CDU-Kanzleramtsminister Schäuble in Ost-Berlin vorstellig geworden. Die CDU werde das Problem des geltenden Asylrechts zum Wahlkampfthema machen. Wenn es mit Hilfe der DDR gelänge, „die SPD für eine entsprechende Änderung des Grundgesetzes zu gewinnen, so würde durch diese Veränderung des Asylrechts in der BRD das Problem gelöst werden können.“ Honecker schob schliesslich „das Wahlbonbon“ (Pötzl) dem SPD-Kanzlerkandidaten Johannes Rau zu, der vor dem Wahltag verkünden durfte, dass die DDR den Zustrom von Asylanten durch Kontrollen im Flugverkehr drosseln werde.

Nachdem die SPD von der Macht verdrängt worden war, fanden Egon Bahr und Günter Gaus, dass sie Parteikontakte zwischen SPD und SED herstellen sollten. Im Auftrag von Brandt und in Abstimmung mit Bahr setzte Gaus einen Brief auf, den er Honecker am 12. November 1982 im ZK-Gebäude übergab, zwei Tage nach dem Tod von Breschnew. Das Politbüro stimmte dem Wunsch Brandts nach Gesprächskontakten zu. Ab 1984 führte zudem die von Erhard Eppler geleitete Grundwertekommission der SPD regelmässig Diskussionen mit Vertretern der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED. Daraus entstand ein Papier mit dem Titel „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“, das wenige Tage vor Honeckers BRD-Reise am 27. August 1987 veröffentlicht wurde. „Keine Seite darf der anderen die Existenzberechtigung absprechen. Unsere Hoffnung richtet sich darauf […], dass beide Systeme reformfähig sind und der Wettbewerb der Systeme den Willen zur Reform auf beiden Seiten stärkt.“

Als erste beriefen sich Mitglieder der DDR-Friedens- und Ökobewegung darauf, nachdem die DDR-Behörden Ende November 1987 gegen Mitarbeiter der Umweltbibliothek bei der Ost-Berliner Zionskirche vorgegangen waren. Der ostdeutsche Schriftsteller Rolf Schneider sah in dem Papier „die Magna Charta einer möglichen Perestroika für die DDR“. Für Pötzl war es erstaunlich, dass Gorbatschow das Papier in einem vertraulichen Schreiben der Kreml-Führung an die DDR missbilligte. Der als Reformer gefeierte Gorbatschow erwies sich in der Sache als Bremser, der als Betonkopf verschriene Honecker dagegen wagte einen Schritt nach vorne. In diesem Zusammenhang weist Pötzl leider nicht darauf hin, das die Anbiederung der SPD an die SED auch zweifelhafte Seiten hatte. Die Grenzen zwischen DDR-Diktatur und BRD-Demokratie wurden so verharmlost und verwischt. Einige in der SPD träumten (sogar noch lange nach 1989) vom „demokratischen Sozialismus“.

Die auf Initiative der sozial-liberalen Regierung in Bonn abgeschlossen Verträge mit der UdSSR (August 1970) und Polen (Dezember 1970) sowie der Grundlagenvertrag von BRD und DDR erlaubten es Honecker, seinen Staat als ebenbürtiges Mitglied in die Völkerfamilie einzuführen und diplomatische Beziehungen mit zusätzlichen Staaten in der ganzen Welt aufzunehmen. Der DDR erlaubte der PLO, ein Büro in Ost-Berlin zu eröffnen und erklärte sich bereit, „den Kampf für die Befreiung Palästinas durch die Übergabe von nicht ziviler Ausrüstung zu verschärfen“. Honecker rühmte die Waffen, die „israelische Panzer zu durchschlagen“ vermochten. Davon habe er sich persönlich überzeugt. Die Zusammenarbeit umfasste noch eine Reihe anderer Massnahmen und Hilfen. Bereits die Parteisäuberung in der DDR Anfang der fünfziger Jahre hatte gemäss Pötzl „ausgesprochen antisemitische Züge“. 1975 verweigerte Honecker gegenüber dem US-Botschafter Entschädigungen für die jüdischen Naziopfer. Honecker verlor im Gespräch die Beherrschung, als er wütend meinte, „die heutige Führung der DDR [seien] nicht Nazis, sondern gerade diejenigen, die gegen den Hitler Faschismus gekämpft hätten. Zahlungen kämen aus diesem Grund nicht in Frage.“

Da Honecker mit den USA ins Geschäft kommen wollte, erklärte er sich bereit, jährliche Lieferungen von grösseren Mengen an Getreide aus Amerika zu importieren. Er hoffte, dass so die US-Regierung auf Bedingungen im Interesse der jüdischen Amerikaner verzichten würde. Doch dann rang er sich doch noch zu einer symbolischen Geste durch: der Jewish Claims Conference übergab er einen einmaligen Check in der Höhe von einer Million Dollar. Ein lächerlicher Betrag im Vergleich mit den fünfzig Milliarden DM, welche die BRD bereits gezahlt hatte. Die Jewish Claims Conference lehnte das schäbige Almosen ab und überwies die Million zurück.

Die DDR leistete in den ersten acht Jahren von Honeckers Amtszeit rund 400 Millionen Dollar an Entwicklungshilfe an Afrika, rund ein Zehntel dessen, was die BRD zahlte. Insgesamt blieb die Wirkung Honeckers auf dem internationalen Parkett gering. Die DDR-Medien zeigten natürlich ein verzerrtes Bild der globalen Bedeutung des Landes. Spötter lästerten deshalb über „die grösste DDR der Welt“. Immerhin gelang es Honecker, der gute Beziehungen zum italienischen Kommunisten Enrico Berlinguer unterhielt, 1976 Delegationen von 29 kommunistischen Parteien in Ost-Berlin zu versammeln, obwohl der eurokommunistische Sonderweg der westeuropäischen Reformkommunisten vom Kreml geächtet und im übrigen Ostblock mit Misstrauen betrachtet wurde. Im Schlussdokument setzte Berlinguers KPI die Aufgabe des sowjetischen Führungsanspruchs durch, indem der Begriff „proletarischer Internationalismus“ gestrichen wurde. Das sonst so orthodoxe Neue Deutschland veröffentlichte sämtliche Reden in vollem Wortlaut und ohne abschätzige Kommentare über Berlinguer, den Spanier Santiago Carillo oder den Franzosen Georges Marchais, die sonst im DDR-Blatt nicht gut wegkamen. Doch die scheinbare Öffnung hielt nicht lange an, nachdem Honecker nach Moskau zitiert worden war. Als die Sowjets 1980/81 den polnischen Sonderweg erfolgreich zu verhindern suchten, stand Honecker wieder treu an der Seite des Kreml.

1985 versuchte sich Honecker mit einem Glückwunschtelegramm zur Wiederwahl bei Ronald Reagans anzubiedern, in der Hoffnung, dass seine Bemühungen um die Gewährung der Meistbegünstigungsklausel im Handel mit den USA so Auftrieb bekämen. Ein Haupthindernis war die fehlende Wiedergutmachung der DDR an jüdische Opfer des Holocausts. 1988 wurde deshalb des 50. Jahrestages der „Reichskristallnacht“ gedacht. Es wurde beschlossen, die Synagoge in der Oranienburger Strasse wieder aufzubauen. Honecker hofierte Edgar Bronfman, den Milliardär und Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses. Ihm sicherte er die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel zu. Bronfman, als Chef des kanadischen Seagram-Konzerns, war seinerseits an kommerziellen Beziehungen mit der DDR interessiert. Honecker sicherte nun der Jewish Claims Conference symbolische 100 Millionen Dollar für humanitäre Härtefälle zu. Bronfman versprach, sich für Honeckers Einladung ins Weisse Haus einzusetzen. Da die DDR zauderte, die finanzielle Zusage in eine Zahlung umzusetzen, entwickelte sich nichts daraus. Immerhin reiste der DDR-Unterhändler Wolfgang Vogel im Mai 1989 nach Israel, um ein Dokument, das eine „Vorstufe für diplomatische Beziehungen“ darstellte, zu unterzeichnen. Doch zum Abschluss reichte die Lebenszeit der DDR nicht mehr aus.

1973 berief Honecker den seit 1965 als Leiter der Planungskommission tätigen Gerhard Schürer ins Politbüro. Er sagte ihm, er hole in rein, weil sie unbedingt einen Experten auf dem Gebiet der Wirtschaft bräuchten, denn er verstehe von der Wirtschaft nicht viel. Doch bereits nach einem Jahr protzte Honecker: „In politischer Ökonomie macht mir keiner was vor“. Eigenlob und Selbstüberschätzung führten dazu, dass sich Honecker von Günter Mittag einreden liess, die volkseigenen Betriebe müssten zu riesigen Wirtschaftskombinaten umorganisiert werden, um die bestehenden Reserven an Arbeitsproduktivität zu mobilisieren. Aus 3,500 Industriebetrieben machte Mittag 250. Die flexiblen Klein- und Mittelbetriebe verschwanden. Es entstanden Monopol-Unternehmen, die weder reale Preise noch Wettbewerb um Marktanteile kannten. Um das Wohlstandsgefälle zur BRD mit ihrem ungleich höheren Lebensstandard, den die DDR-Bürger jeden Tag im Westfernsehen bestaunen konnten, zu mildern, wurden Verbraucherpreise, Aufenthalte in staatlichen Ferienheimen und soziale Dienstleistungen subventioniert.

Bei Pötzl wird die DDR-Wirtschaft zur „Geisterbahn“, die in die falsche Richtung fuhr und vor die Honecker noch eine zweite Lokomotive spannte: den „Bereich Kommerzielle Koordinierung“, kurz KoKo. Sie wurde seit 1966 von Alexander Schalck-Golodkowski geleitet. Auf das berühmte Konto Nr. 0628 bei der Deutschen Handelsbank flossen die Einnahmen aus Familienzusammenführungen und Freilassungen von Inhaftierten. Also das Geld, mit dem der Westen DDR-Bürger freikaufte. Ab 1964 kaufte die Bundesregierung politische Häftlinge der DDR für ein Kopfgeld von 40,000 Mark frei. Ab 1977 betrug es 95,847 Mark. In Einzelfällen wurde zum Teil wesentlich mehr gefordert und auch bezahlt. Nach offiziellen westdeutschen Statistiken kamen so von 1964 bis 1989 um die 34,000 Häftlinge für rund 3,4 Milliarden Mark frei. Gemäss Geheimprotokollen und Aussagen von Schalck waren es tatsächlich gar um die 8 Milliarden DM. Mit den Devisen wurden Südfrüchte, Schuhe und Textilien importiert, „mit denen Honecker sein Volk bei Laune halten wollte. Noch im Oktober 1989 wurden damit aber auch z.B. 160 Pkw Citroën für den zentralen Partei- und Staatsapparat gekauft. Die KoKo dirigierte 223 lukrative SED-Firmen und organisierte den illegalen Technologietransfer, verscherbelte Waffen und Antiquitäten, kassierte bei DDR-gesteuerten Unternehmen ab, die im kapitalistischen System arbeiteten. Gemäss Schalck erwirtschaftete die KoKo seit 1966 insgesamt 50 Milliarden Mark. Rund die Hälfte davon kam per Überweisung auf Konten des Finanzministeriums. Die andere Hälfte blieb in der Verfügungsgewalt von Schalck und wurde „nach Massgabe der Staats- und Parteiführung für bestimmte Zwecke“ verwendet. Die KoKo vergab auch Kredite an Staatsbetriebe. Und in Berlin lagerten mehr als 21 Tonnen Gold als Reserven für den Fall eines Kreditboykotts durch die westlichen Banken.

Honecker wollte in den „goldenen“ siebziger Jahren mit 4% Wachstum des „Nationaleinkommens“ den Lebensstandard jährlich um 5 bis 7% steigern. Als sich Willi Stoph 1982 für „einschneidende Massnahmen“ durch Sparprogramme einsetzte, fuhr im Honecker über den Mund: „Die Worte über einschneidende Massnahmen wollen wir hier nie mehr hören.“ Gemäss Pötzl sank seit Ende der siebziger Jahre die internationale Wettbewerbsfähigkeit vieler DDR-Exportprodukte drastisch. Darunter fielen Werkzeugmaschinen und feinmechanisch-optische Geräte, für die es keine oder nur veraltete elektronische Komponenten gab. Im Juni 1977 erklärte deshalb das ZK der SED die Entwicklung und den Einsatz der Mikroelektronik zur zentralen volkswirtschaftlichen Aufgabe, in die Milliarden investiert wurden, die dann anderswo fehlten. Im Ostblock war die DDR in der Mikroelektronik zwar führend, doch dem Weltmarkt hinkte sie dennoch hoffnungslos hinterher. [Nachtrag vom 5.5.03: 1989 kostete ein 256-Kilobit-Speicherchip auf dem Weltmarkt 5 bis 7 Valutamark. Die Herstellungskosten in der DDR beliefen sich auf 534 Mark. Der Staat schoss zwar 515 Mark an Subventionen je Bauelement zu, doch auch so lag der Verkaufspreis weit über demjenigen der internationalen Konkurrenz.].

Die Fleisch- und Butterproduktion war ein blühender Wirtschaftszweig, bis Gerhard Grüneberg, Mitglied des Politbüros und ZK-Sekretär für Landwirtschaft, entgegen dem Rat von Experten und Genossenschaftsbauern die Agrarwirtschaft mit brachialer Gewalt und der Unterstützung von Honecker industrialisieren wollte. Die Versorgung mit Lebensmitteln verschlechterte sich drastisch. Gemäss Pötzl wurde die DDR-Landwirtschaft einzig durch den Tod Grünebergs im April 1981 vor dem totalen Zusammenbruch bewahrt. Den Höhepunkt erreichte die Krise allerdings erst im Herbst 1982, als es in der gesamten DDR kaum mehr Butter und Käse gab. Der Fleischgrosshändler Josef Metzger aus dem bayerischen Rosenheim hatte bis dahin billig produziertes Fleisch in die BRD eingeführt. Nun kaufte die DDR gegen harte Devisen beim ihm ein, um den Fleischmangel und den dadurch entstandenen Unmut der Bevölkerung zu dämpfen.

Als die DDR bereits am Boden schien, fädelte Franz Josef Strauss einen Milliardenkredit für die DDR ein. Zuvor allerdings verlangte er eine Grenzabfertigung ohne Schikanen. Als die Umsetzung des Gewünschten vom Bundesgrenzschutz und der Bayerischen Grenzpolizei bestätigt wurde, begann die ernste Phase der Verhandlungen. Honecker bot den Abbau der Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze, erleichterte Familienzusammenführungen, Verbesserungen im Reiseverkehr und weitere Gegenleistungen an. 1983 wurde man handelseinig. Auf DDR-Seite wurde der Milliardenkredit von Honecker und Mittag einfach verfügt. Es gab weder in Politbüro nach Ministerrat einen Beschluss. 1984 folgte ein zweiter Milliardenkredit, der erneut durch eine Bundesbürgschaft der Regierung Kohl abgesichert war. Das Geld wurde nicht etwa ausgegeben, sondern gehortet. Die DDR wollte nie mehr in den Ruf eines bankrotten Schuldners kommen.

Gemäss Schalck hatte Strauss erkannt, dass der Kredit eine „Existenzfrage“ für die DDR war, weil Honecker weder von der UdSSR noch anderen Bruderstaaten finanzielles Entgegenkommen erwarten konnte. Es blieb nur der internationale Markt. Strauss habe das Ziel gehabt, die DDR and die BRD irgendwie anzunähern. Kanzler Kohl gegenüber habe Strauss erklärt, der Kredit vergrössere den „Zugriff auf die DDR und die Erpressbarkeit der DDR schrittweise“. Laut Schalck hätte ein Aushungern „möglicherweise den Zerfall nicht beschleunigt, sondern verlangsamt“. Vielleicht wären noch 10 Jahr Diktatur gefolgt, in denen die Opposition erbarmungslos niedergekämpft worden wäre, ähnlich wie in China.

Die sowjetische Erdölpolitik trug wesentlich zum wirtschaftlichen Niedergang der DDR. Die Sowjetunion drehte an der Preisschraube, wodurch sich das Erdöl von 1970 bis 1985 um das zehnfache verteuerte. Honecker bat Breschnew 1981 erfolglos, die damals erfolgte Kürzung der Öllieferungen an die DDR zu überdenken. Als Ersatz blieb der ostdeutschen Diktatur nur die Braunkohle, die in landschaftszerstörendem Tagebau gefördert werden musste. Die Umstellung der Fernwärme auf Braunkohle verschlang Milliarden, die in anderen Bereichen fehlten. Doch zu Konsumverzicht, einem Abbau der Wohlfahrts- und Wohnungsbaupolitik, konnte sich Honecker nicht durchringen. Im November 1987 war die Verschuldung gegenüber dem Westen auf 38,5 Milliarden Valutamark gestiegen. 1988 war die DDR-Wirtschaft bereits im Sturzflug, doch Honecker reagierte nicht auf Vorschläge seiner Umgebung. Schalck und Schürer diskutierten miteinander gar die Möglichkeit einer Konföderation mit der BRD. „Das einzige Hemmnis“ habe darin gelegen, dass man in diesem Fall der alten westdeutschen Forderung nach freiem Reiseverkehr hätte nachgeben müssen. Gemäss Schalck hätte allerdings Stasi-Chef Mielke dagegen opponiert, da er was, „wenn man die Schleusen aufmacht, ist die Macht nicht zu halten.“ Auch habe Honecker kaum „ernsthaft an eine Konföderation gedacht“, da ihm klar gewesen sei, dass er „keinen gesellschaftlichen Einfluss auf die BRD [hätte] ausüben können“, so Schalck. Honecker sah jedoch nicht, dass die DDR Bankrott war. Noch 1991 behauptete er, dass die DDR „eine aufblühende Volkswirtschaft“ hatte. Das sei „auch von den grössten Miesepetern nicht zu bestreiten.“

Honecker knüpfte bereits in den siebziger Jahren heimlich Kontakte zur oppositionellen CDU. So traf sich der CDU-Schatzmeister Walther Leisler Kiep Anfang 1975 im Einvernehmen mit dem CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl mit DDR-Vertretern und machte ihnen deutlich, dass die CDU alle von der sozial-liberalen Regierung geschlossenen Verträge akzeptieren werde. Nachdem der Bundestag am 22. November 1983 der Aufstellung von Pershing-2 Raketen und Cruise Missiles zugestimmt hatte, fror Honecker die Beziehungen zur BRD keinesfalls ein. Es sei „besser, zehnmal zu verhandeln, als einmal zu schiessen.“ Die Sowjets dagegen brachen am Tag nach dem Entscheid die Abrüstungsverhandlungen in Genf ab.

Honecker holte am 24. Mai 1984 seinen Westexperten Häber ins Politbüro. Er wurde auch zum ZK-Sekretär gewählt, ohne wie sonst üblich zuvor Kandidat gewesen zu sein. Häber war bis dahin Honeckers Strippenzieher im Hintergrund zur Vorbereitung seines Bonn-Besuchs gewesen. Honecker und Kohl bereiteten eine deutsch-deutsche Begegnung vor. Die Sowjets dagegen wünschten den Besuch nicht. Der Kreml-Chef Tschernenko warnte Honecker vor Eigenmächtigkeiten und drohte ihm gar mit der Absetzung, auch wenn er scheinbar konziliant bekundete, der BRD-Besuch sei „natürlich eine Sache, die von der SED zu entscheiden ist.“ Häber war in den Augen des SED-Politbüros der Schuldige, der den Generalsekretär in Moskau gegen eine Wand habe rennen lassen. Honecker liess Häber kurz darauf fallen. Nach einem Jahr Mobbing und Isolation erlitt Häber einen Nervenzusammenbruch. Er wurde zum Rücktritt gezwungen, da er im Spital mit den Ärzten über Differenzen zwischen Honecker und Gorbatschow erwähnt hatte.

1986 war auch der neue Kreml-Chef Gorbatschow gegen Honeckers Besuch in der BRD. Es sei „jetzt nicht der Zeitpunkt, die Beziehungen zur Bundesrepublik zu verbessern.“ Mit dem Staatsbesuch von Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Juli 1987 in der Sowjetunion deutete sich Tauwetter zwischen Bonn und Moskau an. Honecker fühlte sich ermuntert, seinen Reisplan in die Tat umzusetzen. Er wurde vier Tage nach Weizsäckers Rückkehr angekündigt. Für Pötzl war es der Höhepunkt von Honeckers politischer Karriere, als der Staatsratsvorsitzende der DDR im September 1987 von Bundeskanzler Kohl in Bonn mit militärischen Ehren empfangen wurde. Ein Besuch bei Weizsäcker folgte ebenfalls. Laut Krenz habe Honecker Gorbatschow dazu einfach nicht mehr gefragt, was dieser ihm nie verziehen habe, da Honecker ihm so den Vortritt in Bonn stahl.

Der sonst hölzerne und knochentrockene Honecker konnte auch gerührt sein, wenn seine Heimat, die Saar ins Spiel kam. Als er von Oskar Lafontaine im Saarland empfangen wurde, liess ihn die Rührung bei einer Rede in Neunkirchen vom Redemanuskript abweichen. In freier Rede sprach er von den zwei deutschen Staaten, die in zwei Blöcken verankert seien. Doch wenn alles so realisierte werde, wie man es eben im Bonner Kommunique verabschiedet habe, „dann wird auch der Tag kommen, an dem Grenzen uns nicht mehr, sondern vereinen“. In die aufkommende Unruhe schob er rasch nach, „so wie und die Grenze zwischen Polen und der DDR vereint“. Die Journalisten rannten zu den Telefonen. Hatte Honecker da nicht „vereint“ gesagt. Laut Krenz waren dem Staatsratsvorsitzenden da „die Emotionen durchgegangen“.

Doch die Freude der Menschen, die nicht sentimentale Gesten, sondern „handgreifliche Veränderungen“ wünschten, hielt nicht lange an, so der Parteihistoriker Günter Benser. Aus der erwarteten Öffnung wurde nichts. Honecker war für Kirchenleute wie Stolpe plötzlich nicht mehr zu sprechen. Statt Kontakten gab es Verhärtungen. Pötzl führt aus, dass am 25. November 1987 die Stasi die Räume der Ost-Berliner Zionskirche durchsuchte und fünf Personen wegen des Verdachts auf „Zusammenschluss zur Verfolgung gesetzwidriger Ziele“ festnahm. Die Aktion war gegen die bei der Kirche untergebrachte „Umweltbibliothek“, ein Zentrum von Friedens-, Menschenrechts- und Ökologiegruppen, gerichtet. Vervielfältigungsapparate und alternative Informationsschriften wurden beschlagnahmt. Die Stasi verhaftete am 17. Januar 1988 bei Demonstrationen zum 69. Jahrestag der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht 120 Demonstranten. Am 6. März 1988 versammelten sich 200 Ausreisewillige in der Sophienkirche. Es kam zur Polizeikontrolle von Gottesdienstbesuchern. Am Anfang 1989 verprellte der Kirchenmann Manfred Stolpe den SED-Generalsekretär durch ein Interview mit dem westdeutschen Blatt Die Welt, in dem er meinte, „gute und gerechte Reiseregelungen“ spielten „eine grosse Rolle für das Wohlbefinden der Bürger in ihrem Staat“. Anderntags höhnte das Neue Deutschland auf Weisung Honeckers, Stolpe solle sich lieber um die Frage kümmern, weshalb die Kirchen immer weniger Besucher hätten, statt sich „mit staatlichen Fragen zu beschäftigen“. Es sei „kein Dienst an der freien Religionsausübung“, die DDR im Westen madig zu machen. Stolpe erfuhr Sympathiebekundungen aus dem ganzen Land, „bis in hohe Funktionärskreise“ hinein. Stolpe erkannte darin „ein Zeichen, dass sich hier alles auflöst“.

Honecker war laut Pötzl anfangs „pflegeleicht“ für Moskau. Ulbricht hatte sich noch gelegentlich widersetzt, von Moskau dirigiert zu werden. Honecker dagegen bat Breschnew, „die DDR de facto als eine Unionsrepublik zu betrachten und sie als solche in die Volkswirtschaftspläne der UdSSR einzubeziehen“, so der Sowjetdiplomat Julij Kwizinski. Während der Polenkrise 1980/81 bot Honecker Breschnew an, wenn notwendig, eine „Weltunion der sozialistischen Länder“ zu bilden. Der Sowjetbotschafter in Ost-Berlin, Abrassimow, meinte dazu, „ohne unser Erdöl und Erdgas, unser Metall oder unsere Baumwolle hätte die DDR auch nicht ein einziges Jahr existieren können“.

Erst nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan wagte Honecker einen ersten vorsichtigen Schritt zur Emanzipation von Moskau, da er über den Alleingang des Kreml empört war. Laut dem journalistischen Zeitzeugen Wessel lies sich Honecker zu einem Doppelspiel hinreissen: „Offiziell redete er von Unterstützung, intern aber liess er an seinen Vorbehalten gegenüber der sowjetischen Afghanistan-Politik keinen Zweifel“. Daher kommt Pötzl zum Schluss, dass die Freundschaft mit der Sowjetunion lange vor der Entzweiung mit Gorbatschow über dessen Reformen einen Riss bekam, der sich in der Folgezeit immer mehr vertiefte.

Honecker war zwar überzeugt, Anfang der achtziger Jahre mit allem Nachdruck gegen die Stationierung der Pershing-2 Raketen kämpfen zu müssen, doch falle dies schwer, wenn gleichzeitig Mittelstreckenraketen im eigenen Land stünden, so Heinz Kessler. Honecker machte keinen Unterschied zwischen amerikanischen und sowjetischen Waffensystemen, was laut Egon Krenz einer Verletzung der „Blockdisziplin“ gleichkam. Im Herbst 1981 kam die oben erwähnte Kürzung der sowjetischen Erdöllieferungen hinzu. Die UdSSR förderte jährlich 500 Millionen Tonnen. Die zwei Millionen Tonnen für die DDR fielen da nicht ins Gewicht, bemerkte das Politbüromitglied Werner Eberlein. Doch der Kreml war damals wegen der Kredite des Westens an die DDR verstimmt. Das Erdöl konnte gegen Devisen in den Westen verkauft werden. Honecker empfand gemäss dessen Kanzleichef Frank-Joachim Herrmann „die Erdöl-Sache damals als eine Zäsur.“ Breschnews Abgesandter Russakow verglich die Situation mit Brest-Litowsk, Lenins Friedensschluss mit den Mittelmächten vom März 1918, mit dem er durch gewichtige Gebietsabtretungen eine Atempause im Bürgerkrieg gewinnen wollte. In anderen Worten, 1981 stand der UdSSR das Wasser bereits bis zum Hals. Honecker erkannte, das mit sowjetischer Hilfe nicht mehr zu rechnen war. Moskau spielte die Erdölkarte bei den Olympischen Spielen vom Sommer 1984 in Los Angeles. Das DDR-Politbüro gab der sowjetischen Erpressung nach, boykottierte die Spiele und erhielt dafür Erdöl.

Als der mit 54 Jahren relative junge, dynamische und frei formulierende Gorbatschow auf der Bildfläche erschien, stand der biedere Honecker in seinem Schatten. Laut Pötzl machte das den SED-Chef, ohne dass dies auf ideologischen Differenzen beruhte. 1984, als Tschernenko Honecker wegen seiner westdeutschen Reisepläne nach Moskau zitierte, stritt sich der SED-Generalsekretär heftig mit Gorbatschow. Bereits damals war das persönliche Verhältnis der zwei Politiker zerrüttet, die sich neben der Deutschlandpolitik auch im Verhältnis zu Peking nicht verstanden. Die DDR-Führung trat trotz ideologischer Differenzen für gute Beziehungen zu China ein, die Sowjets dagegen wollten Peking international isolieren. Im August 1985 warnte Gorbatschow Honecker, die chinesische Führung spreche mit gespaltener Zunge. China sei unter Hu Yaobang öffentlich für die Wiedervereinigung Deutschlands aufgetreten. Peking betreibe eine „Politik des Versöhnlertums mit dem Imperialismus“, so Gorbatschow. Laut Krenz ging es allerdings nur darum, dass Honecker nicht als erster Vertreter der „linientreuen“ sozialistischen Länder Europas von Peking empfangen werden sollte. Als Willy Brandt 1985 nach Ost-Berlin reiste, erlebte er einen trotzigen Honecker, der nicht einmal Gorbatschows Anti-Alkohol-Kampagne mitmachen wollte. Honecker sagte zu Brandt, als sie sich mit dem westdeutschen Wodka der Marke „Gorbatschow“ zuprosteten: Wir gehen doch alle den deutschen Weg?“

Als Egon Krenz einmal sagte, was Gorbatschow wolle – wachsam gegenüber der BRD und China sein – sei „ja ganz vernünftig“, antwortete Honecker: „Ach, so denkst du?“ Von da an, so Krenz, hätten sich die menschlichen Beziehungen zwischen ihnen abgekühlt. Krenz wurde von der Liste der SED-Delegation gestrichen, die zum KPdSU-Parteitag nach Moskau fuhr. Honecker waren die neuen Modewörter „Perestroika“ und „Glasnost“ vom Parteitag Ende Februar/Anfang März 1986 suspekt. Laut dem ostdeutschen Historiker Daniel Küchenmeister war Honecker im Gegensatz zu Gorbatschow gegen jeglichen Pluralismus in der Innen- und Aussenpolitik. Für ihn waren „die uneingeschränkte Hegemonie der Sowjetunion im Warschauer Vertrag und das Fortbestehen des Status quo in Europa […] Garantien des Sozialismus“.

Laut Pötzl schlugen die Meinungsverschiedenheiten zwischen Honecker und Gorbatschow spätestens im Oktober 1986 in offene Feindschaft um. Gorbatschow erwähnte in einem Gespräch mit dem SED-Chef, dass er mit Hans-Dietrich Genscher einig sei, „dass die Russen und die Deutschen eine grosse Verantwortung für die Geschichte Europas haben“. Das „Dreieck UdSSR, DDR und BRD [habe] ein ausserordentliches Gewicht“ für den Frieden in der Welt. Honecker war über die Gespräche Genschers mit Gorbatschow im Bilde, doch da der Bonner Aussenminister äusserte, ein neues Blatt sei im Verhältnis zwischen Moskau und Bonn aufgeschlagen worden, wuchs Honeckers Misstrauen gegenüber Gorbatschow, der ihn zuvor noch eindringlich vor der „revanchistischen Bundesrepublik“ gewarnt hatte.

Anfang 1988 informierte Honecker den sowjetischen Botschafter darüber, dass künftig das Wort „Perestroika“ aus den in der DDR verbreiteten offiziellen sowjetischen Dokumenten gestrichen werde. „Wir sind gegen die Praxis der reinsten Verleumdung der Geschichte der KPdSU, des sozialistischen Aufbaus in der UdSSR […]“. Dem SED-Chef missfiel vor allem, dass in der Sowjetunion, statt die Wirtschaftsreformen entschlossen anzupacken, über den Stalinismus diskutiert wurde (Pötzl erwähnt hier nicht, dass Honecker selbst in der DDR nichts in dieser Richtung unternahm). Im November 1988 verbot Honecker die Auslieferung der Moskauer Monatsschrift Sputnik, die Artikel in verschiedenen Sprachen aus aus sowjetischen Zeitungen und Zeitschriften nachdruckte, in denen die Reformdiskussion stattfand.

Der frischgebackene Vorsitzende eines neu gebildeten wissenschaftlichen Beirats, Daschitschew, referierte im November 1987 im Moskauer Aussenministerium über die sowjetische Aussenpolitik und argumentierte, die UdSSR habe ein vitales Interesse daran, nach Beendigung des Kalten Krieges eine umfassende Kooperation mit dem Westen aufzubauen. Wenn nötig müsse dafür der separate ostdeutsche Staat geopfert werden. Der DDR-Botschafter berichtete Honecker über „ernsthafte Diskussionen“ in Moskau, „die deutsche Zweistaatlichkeit zu überwinden“. Daschitschews altgedienter Vorgesetzter im Aussenministerium tobte zwar über das Referat, das verbrannt wurde, doch das war der Anfang einer neuen Deutschlandpolitik, denn wenige Monate später setzte Daschitschew dem sowjetischen Botschafter in Ost-Berlin zwei Stunden lang auseinander, dass man nicht nur auf Honecker setzen dürfe, sondern auch mit den neuen Gesellschaftskräften in der DDR zusammenarbeiten müsse. Daschitschew fand im Kreml Gehör mit seiner Meinung, dass keine Ideologie die Teilung einer grossen Nation im Herzen Europas rechtfertigen könne. Honeckers Replik darauf kam im Januar 1989 bei der Eröffnung des Thomas-Müntzer-Jahres: „Die Mauer wird so lange bleiben, wie die Bedingungen nicht geändert haben, die zu ihrer Errichtung geführt haben“. Der als „Gorbatschow-Berater“ angekündigte Daschitschew hielt im Juni 1989 am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche Studien in Köln einen Vortrag, in dem er einen möglichen Fahrplan zur Verbesserung der Beziehungen zu den USA und zur Nato skizzierte, die mit schwerwiegenden Folgen für die Souveränität der DDR verbunden sei. Honecker erhielt den ob seiner Brisanz nie im Wortlaut veröffentlichten Vortrag auf Umwegen über westdeutsche Teilnehmer. Der SED-Chef erfuhr über die Westmedien, dass Gorbatschow bei seinem BRD-Besuch vom 12. bis 15. Juni 1989 bedeutende Zugeständnisse zulasten der DDR gemacht habe und glaubte deshalb den gegenteiligen Beteuerungen des Kreml-Chefs nicht. Ein Bericht des Politbüros an das SED-Zentralkomitee besagte, Gorbatschow habe sich bei seinem Bonn-Besuch „nicht klassenmässig“ verhalten. Auf gut Deutsch: Er hat uns verraten. Eine einmalige Anschuldigung an das Bruderland. In Tat und Wahrheit hatte das Politbüro eine solche Einschätzung gar nie besprochen. Honecker hatte sie nachträglich mit eigener Hand eingefügt.

Der fast 77jährige Honecker sah im „Kapitalismus“, was er als junger Mann erlebt hatte: Arbeitslosigkeit, keine ausreichende medizinische Versorgung, die Arbeiterwitwe, die sich weder Essen noch Wohnung leisten konnte, etc. In der DDR dagegen machte die Miete nur fünf Prozent des Einkommens des Normalverdieners aus, die medizinische Betreuung war schlecht, aber gratis, die öffentlichen Verkehrsmittel fast kostenlos, usw. Honecker glaubte tatsächlich, die arbeitende Bevölkerung habe es in der DDR besser als im Westen.

Am 16. und 18. August 1989 wurde Honecker in Berlin eine entzündete Gallenblase entfernt. Dabei entdeckten die Ärzte einen Tumor im Dickdarm, den sich auch gleich herausschnitten. Die Chirurgen übersahen allerdings einen zweiten Krebsherd in der rechten Niere. Nach Einschätzung von Franz Bertele, der in jenen Monaten die Bundesrepublik in der DDR vertat, hätte Honecker „den Sozialismus mit der Waffe verteidigen lassen“, wenn er im Vollbesitz seiner Kräfte gewesen wäre. Als Gorbatschow Anfang Oktober 1989 nach Berlin kam, sprach er die Worte: „Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren.“ Der Satz wurde in einer eleganteren Form zum Leitmotiv der Wende: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“.

Egon Krenz, unterstützt von Gleichgesinnten, entwarf eine Erklärung, mit der die „unseligen Worte Honeckers“ von den DDR-Bürgen, denen keine Träne nachzuweinen sei, zurückgenommen werden sollten. Darin hiess es: „Der Sozialismus braucht jeden. Er hat Platz und Perspektive für alle […]“. In der Sitzung des Politbüros vom 10. Oktober 1989 war der konkreteste Vorschlag, den Honecker zu bieten hatte, dass jeder DDR-Bürger einen Reisepass erhalten müsse und einen Antrag auf ein Visum stellen könne. Doch, so Pötzl, was wären Pässe wert gewesen, ohne die Garantie, auch wirklich reisen zu dürfen? Der Generalsekretär gab die Parole raus: „Keine Fehlerdiskussion.“ Doch bereits der erste Redner, Kurt Hager, widersprach. Ein Novum im Politbüro. So ging es reihum, nur Günter Mittag und Hermann Axen sprachen sich für Honeckers Linie aus, der Rest, auch Willi Stoph, setzte sich für die Krenz-Erklärung ein. Am nächsten Tag fragte Krenz den Ministerratsvorsitzenden Stoph, ob es nicht an der Zeit sei, den nächsten Schritt zu gehen. Stoph fragte nicht einmal, was Krenz meinte, sondern antwortete: „Für Erichs Absetzung brauchen wir eine Mehrheit. Wir müssen vorher mit allen sprechen.“ Honeckers-Absetzung sollte bei der nächsten Sitzung des Politbüros auf die die Tagesordnung.

Bei der nächsten Leipziger Montagsdemonstration durfte es nicht zu Strassenschlachten und Bürgerkriegsähnlichen Zuständen kommen. Deshalb sollte der Einsatz von Schusswaffen im Zusammenhang mit Demonstrationen verboten werden. Honecker sträubte sich als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates, die Order zu unterschreiben. Er wollte gar – „nur so, nur zur Drohung“ – ein Panzerregiment durch Leipzig rattern lassen. Krenz und der Stabschef der Nationalen Volksarmee, Fritz Streletz, redeten auf den SED-Chef ein: Panzereinsatz in Städten setze die bedingungslose Bereitschaft zur Gewaltanwendung voraus, so wie 1968 beim Prager Frühling. Mit einem patzigen „Na, denn nicht“ zog Honecker seinen Vorschlag zurück.

Am 17. Oktober 1989 kam die Wende. Honecker fragte routinemässig zu Beginn der Sitzung des Politbüros: „Gibt es noch Vorschläge zur Tagesordnung?“ Stoph meldete sich und schlug als ersten Punkt der Tagesordnung vor: „Entbindung des Genossen Honecker von seiner Funktion als Generalsekretär und Wahl von Egon Krenz zum Generalsekretär“. Honecker schaute zuerst regungslos, fasste sich aber rasch wieder: „Gut, dann eröffne ich die Aussprache.“ Nacheinander äusserten sich alle Anwesenden, doch keiner machte sich für Honecker stark. Schabowski erweiterte gar den Antrag und forderte auch die Absetzung Honeckers als Staatsratsvorsitzenden und Vorsitzenden des Nationalen Sicherheitsrates. Sogar der Jugendfreund Mittag rückte von Honecker ab. Ob der Heuchelei in Mittags Intervention, forderte Alfred Neumann spontan die Ablösung von Mittag und von Presszensor Joachim Herrmann. Nach drei Stunden fiel der einstimmige Beschluss des Politbüros. Honecker votierte, wie es Brauch war, für seine eigene Absetzung. Dem ZK der SED wurde vorgeschlagen, Honecker, Mittag und Joachim von ihren ihren Funktionen zu entbinden. Bei der folgenden ZK-Sitzung waren 206 Mitglieder und Kandidaten anwesend. Lediglich 16 fehlten, darunter Margot Honecker. Die einzige Gegenstimme kam von der 81jährigen früheren Direktorin der Parteihochschule, Hanna Wolf, einer entschiedenen Gorbatschow-Gegnerin. Egon Krenz wurde per Akklamation einstimmig zum neuen Generalsekretär gewählt. Erich Honecker wurde später wegen parteischädigendem Verhalten aus der SED ausgeschlossen. Honeckers Privatkonto mit rund 218’000 DDR-Mark wurde beschlagnahmt. Als eine Staatsanwältin in Begleitung von Polizisten das Ehepaar Honecker, das gerade einen Waldspaziergang machte, zum Einsteigen aufforderte, kreischte Margot: „Siehst du, Erich, genau wie 1935“. Bei der Hausdurchsuchung fanden die Fahnder nichts von Belang.

Aus der „Aktuellen Kamera“ vom 6. Januar 1990 erfuhr der geschockte Honecker, dass er Nierenkrebs hatte. Nach dem sofort nötigen medizinischen Eingriff sollte entschieden werden, ob Honecker in Haft genommen werden könne. Der Eingriff war erfolgreich. Ein schwieriges Leben ohne Geld begann. Am 13. März 1991 wurde Honecker vom sowjetischen Verteidigungsminister Jasow, der im Sommer jenen Jahres gegen Gorbatschow putschte, nach Moskau ausgeflogen. Nach der Niederschlagung des Putsches und dem Aufstieg Jelzins wurde Honecker, nach einem Intermezzo in der chilenischen Botschaft in Moskau und nur scheinbar manipulierten ärztlichen Diagnosen, unter Protest in die Bundesrepublik abgeschoben. Ehefrau Margot blieb in Moskau, da sie fürchtete, in Deutschland wegen Zwangsadoptionen von Kindern von Republikflüchtlingen ebenfalls hinter Gittern zu landen. Später reiste sie nach Chile aus.

Am Ende seines Lebens, als er sich Ende 1992 in Moabit vor dem Kriminalgericht unter anderem wegen seiner Mitschuld am Tod von Republikflüchtlingen an der von ihm massgeblich mitverantworteten Mauer verantworten musste, schloss sich für Honecker ein Kreis. Wie einst von den Nazis, sah er sich nun erneut zu unrecht verfolgt. „Ich hätte das mit Kohl nicht gemacht“. Damit meinte er, den westdeutschen Kanzler hätte er beim Sieg des Kommunismus über den Kapitalismus nicht einsperren lassen. Der todkranke, haftunfähige Honecker konnte im Januar 1993 ins chilenische Exil fliegen. Nach Honeckers Abreise bemerkte das Gericht, dass es einen Formfehler begangen hatte. Honecker wurde nochmals vorgeladen. Es „bestünde die Möglichkeit einer Fortsetzung der Hauptverhandlung in Ihrer Abwesenheit“, teilte der Vorsitzende Richter mit. Und so kam es. Das Strafverfahren wurde im April 1993 „wegen eines in der schweren Erkrankung des Angeklagten liegenden Verfahrenshindernisses“ endgültig eingestellt. Der 81jährige Honecker starb am 29. Mai 1994 im chilenischen Exil.

Pötzl hat keine Biografie mit erschöpfenden Antworten verfasst. Nicht zuletzt Honeckers Verstrickungen in die dunklen Seiten der DDR-Diktatur leuchtet er nicht bis ins letzte Detail aus. Seine Darstellung ist zwar differenziert, aber insgesamt zu milde. Sie beruht auf der bereits publizierten Literatur zum Thema sowie auf der Befragung von Zeitzeugen, deren Aussagen allerdings manchmal mit Vorsicht zu geniessen sind, nicht zuletzt, wenn sie aus den Machtzirkeln der DDR stammen. Gemäss dem Anmerkungsapparat scheint Pötzl nicht selbst in Archiven recherchiert zu haben. Dennoch ist sein faktenreiches und leicht zu lesendes Werk nicht nur „Ostalgikern“ zur Heilung zu empfehlen, sondern allen, die sich mit dem letzten Unrechtsstaat auf deutschem Boden und der Vita seines während knapp drei Jahrzehnten führenden Repräsentanten auseinandersetzen wollen.


Dieser Artikel basiert auf Norbert F. Pötzl: Erich Honecker. Eine deutsche Biographie. DVA, 2002, 384 S. Buch bestellen bei Amazon.de.

Artikel ursprünglich in 7 Teil am 2., 3., 4. und 5. Mai 2003 veröffentlicht.