Biografie von Helmut Schmidt

Dez 20, 2003 at 00:00 4850

Dieser Artikel beruht weitgehend auf Michael Schweliens Biografie von Helmut Schmidt (Amazon.de).

Der Altkanzler und seit 1983 Mitherausgeber der Wochenzeitschrift Die Zeit, gehört nicht nur zu den herausragendsten und bekanntesten Deutschen der Nachkriegszeit, sondern auch zu den bekennenden Hamburgern. In einer Talkshow sagte er laut Biograf Michael Schwelien: „Ich bin mit Leib und Seele ein Hamburger, ein hanseatischer Hamburger überdies.“

Helmut Schmidt wurde am 23. Dezember 1918, sechs Wochen nach Ende des Ersten Weltkriegs im Hamburger Stadtteil Barmbek geboren. Sein Vater war ein uneheliches Kind eines jüdischen Kaufmanns namens Gumpel gewesen, der sich nach Sachsen absetzte. Von seinem jüdischen Grossvater erfuhr Helmut von seiner Mutter allerdings erst im Herbst 1933. Er behielt das Wissen nicht nur während der Nazizeit, als es zuerst weise und dann lebenswichtig war, für sich, sondern sogar bis weit über das Ende seiner Kanzlerschaft hinaus.

Bereits Ende des 16. Jahrhunderts kamen sephardische, aus Portugal stammende Juden nach Hamburg. Mitte des 17. Jahrhunderts wurden sie allerdings vertrieben und liessen sich in der Nachbarstadt Altona als Untertanen des dänischen Königs nieder, der sich allerdings den Schutz versilbern liess. Helmut Schmidts leiblicher Grossvater war ein Nachfahre sephardischer Juden.

Gustav, der Vater von Helmut, lernte von seinem Adoptivvater Schmidt nicht viel, war dieser doch praktisch Analphabet. Doch der Junge war ein hervorragender Volksschüler und erhielt eine Lehrstelle in einer Anwaltskanzlei. Der Adoptivsohn eines ungelernten Arbeiters schaffte den Aufstieg zum Kanzleischreiber. Dank einem privaten Gönner konnte er danach noch das Lehrerseminar absolvieren. 1914, mit 26 Jahren, legte er die zweite Lehrerprüfung ab. In jenem Jahr heiratete er. Nach dem Krieg wurde er Volksschullehrer. Im Abendstudium legte er ein Examen in Volkswirtschaftslehre ab und wurde Diplom-Handelslehrer und dort gar Schulleiter, was er bis zu seiner Absetzung durch die Nazis 1933 blieb.

Sein 1918 geborener Sohn Helmut besuchte die reformpädagogisch ausgerichtete Lichtwarkschule. Dort entwickelte er sein Musik- und Kunstverständnis, das auch von seinen Eltern gefördert wurde. Im Wohnzimmer der Familie Schmidt stand ein Klavier, auf dem Helmut und sein zwei Jahre jüngerer Bruder von einer privaten Klavierlehrerin Unterricht erhielten.

Alfred Lichtwark, der Namensgeber der Schule, war nicht nur der erste Direktor der Hamburger Kunsthalle, sondern auch ein Förderer der Kunst für das Volk gewesen. Ab Ostern 1933 krempelten die Nazis die Schule, an der zahlreiche Juden unterrichteten, um.

Helmut Schmidt, fünfter Bundesminister der Verteidigung, vom 21.9.1969 bis 10.07.1972.

Helmut Schmidt, fünfter Bundesminister der Verteidigung, vom 21.9.1969 bis 10.07.1972. Photo: Wikipedia / Wikimedia Commons. © Bundeswehr / Archiv.

Anfang der 1930er Jahre zog die Familie in eine billigere Wohnung in Barmbek, weil dem Vater das Gehalt gekürzt worden war, doch Sohn Helmut konnte dennoch im Sommer 1932 im Rahmen eines Schüleraustausches drei Wochen nach Manchester gehen, wo er Englisch lernte.

Die Erziehung an der Hamburger Lichtwarkschule gab Helmut, der zwar nach eigener Aussage in die Hitlerjugend wollte (trotz elterlichem Verbot), die nötige Kritikfähigkeit, um eine „langsam aufkommende Skepsis gegenüber bestimmten Praktiken des NS-Regimes“ zu entwickeln (Hartmut Soell). Im Dezember 1936 wurde er nach einem Krach aus der Marine-HJ rausgeworfen. Der Rauswurf sei vermutlich weniger eine bewusste politische Stellungnahme als vielmehr Ausdruck jugendlicher Lust an der Provokation gewesen (Schwelien). Seine Jugend sei „unpolitisch“ gewesen, meinte Schmidt dazu.

Allerdings fand Helmut den politischen Unterricht der Nazis „schwachsinnig“. Er meint gar, er sei „beinahe selbst zum Kommunisten geworden“. In seinem „Politischen Rückblick auf eine unpolitische Jugend“ schrieb er dazu, dass neben seinem jüdischen Grossvater die Diffamierung der von ihm bewunderten und geliebten Expressionisten ihn am stärksten gegen die Nazi-Ideologie aufgebracht und verhindert hätten, dass er ein Hitler-Anhänger geworden sei.

Bereits an Ostern 1929, in der Sexta, lernte Helmut Schmidt Loki kennen, die er am 27. Juni 1942 heiratete. Ihr Sohn Moritz kam am 26. Juni 1944 zur Welt – und verstarb im Februar 1945, wahrscheinlich an Meningitis. 1947 kam die Tochter Susanne zur Welt, die später im Bank- und Finanzbereich Karriere machte. Zu den zwei Kindern kamen noch sechs Fehlgeburten, die auf die damals noch unbekannte Infektionskrankheit Toxoplasmose zurückzuführen waren. Der Traum von der grossen Familie liess sich nicht realisieren.

Loki war übrigens in der Sexta nach eigener Aussage die Längste, Helmut der Kleinste gewesen. „Wir konnten uns so gut zanken“, erzählte sie Schwelien zu ihrer Kinderfreundschaft, die keine Kinderliebe war. Die 1919 als Hannelore Glaser geborene Loki war das erste Kind einer Arbeiterfamilie, in der sich die Eltern durch den Besuch der Volkshochschule selbst weiter bildeten.

Gegen Ende der 1930er Jahre leistete Helmut Schmidt zuerst Arbeits-, dann Wehr- und schliesslich Kriegsdienst an der Ostfront. Er stand zwar zunehmend dem Nazi-Regime kritisch gegenüber, dachte jedoch nicht daran, Teil des Widerstands zu werden. Er wusste nicht, als sein unmittelbarer Vorgesetzter, Major Georgi verhaftet wurde, dass dieser Verbindung zu den Männern des Hitlerattentats vom 20. Juli hatte. Schmidts Haltung war vielmehr eine der Pflichterfüllung, wodurch er rasch zum Offizier aufstieg.

Später wurde Oberleutnant Schmidt als Zuhörer zum Volksgerichtshof verpflichtet. Den Vorsitzenden Richter Freisler empfand er als widerliches Schwein. Schmidt bat seinen vorgesetzten General um Entbindung von der Zuhörerschaft in Berlin, und seinem Wunsch wurde stattgegeben. Anfang 1945, als er noch immer unter dem Eindruck der Prozesse am Volksgerichtshof stand, äusserte er sich, nun an der Westfront eingesetzt, bei einer Übung auf dem Flak-Schiessplatz Rerik an der Ostsee kritisch über Feldmarschall Göring und allgemein über die „Braunen“. Der NS-Führungsoffizier des ihm übergeordneten Stabes, laut Schmidt der einzige Nazi, den er bewusst als solchen in der Wehrmacht erlebt habe, wollte ihn zur Rechenschaft ziehen.

Insbesondere zwei Schmidt vorgesetzte Generaloberste schützten ihm durch Versetzungen von einer Flak-Truppe zu anderen, sodass nie ein Verfahren gegen ihn eröffnet werden konnte. Er kämpfte bis März 1945 an der Westfront. Bei Soltau am Rande der Lüneburger Heide wurde er von britischen Soldaten erwischt. So endete der Krieg für ihn in britischer Kriegsgefangenschaft, aus der er mit 27 Jahren entlassen wurde.

Tragische Folgen hatte der Krieg für Schmidts Vater. „Nach 1945 blieb er entschluss- und kraftlos. Der Sohn musste alles für ihn regeln. Die unbestimmte Angst verfolgte und lähmte den Vater bis zu seinem Tod im Jahr 1982“ (Schwelien).

Nur widerwillig und dann auch zumeist nur in Andeutungen habe Schmidt über seine Rolle im Zweiten Weltkrieg gesprochen, verharmloste und beschönigte allerdings auch nichts, vermerkt Schwelien. Schmidt ist allerdings auch heute noch davon überzeugt, dass die Wehrmacht die „einzig anständige Organisation im Dritten Reich“ gewesen sei.

Bereits als Soldat wurde Helmut als dynamischer, ehrgeiziger und pragmatischer junger Mann beschrieben. Nach dem Krieg fühlte er sich allerdings nicht mehr jung genug, um seinen Traum vom Architekturstudium zu verwirklichen. Stattdessen entschied er sich im Herbst 1945 für das kürzere Studium der Volkswirtschaft, das er nach vier Jahren abschloss. Zu seinen Dozenten gehörte übrigens auch Karl Schiller.

Im Mai 1946 trat Helmut Schmidt der SPD bei. Von 1947 bis 1948 amtete er bereits ein Jahr als Vorsitzender der Hamburger Gruppe sowie ein Jahr als Bundesvorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), den er mit gegründet hatte, der aber seiner Meinung nach später „völlig aus dem Ruder“ gelaufen sei. Noch vor der Währungsreform wurde Schmidt als „Referent“ für ökonomische Themen auf sozialdemokratischen Wochenendkonferenzen herumgereicht. 1951 übernahm er schliesslich sein erstes administratives Amt: Er wurde Verkehrsdezernent in Hamburg. Sein Chef war Wirtschaftssenator Karl Schiller, als dessen Referent er arbeitete.

Schmidt hatte keine politischen Vorbilder. Hingegen fand er Leitbilder in der Literatur. Dazu gehören die Selbstbetrachtungen des römischen Kaisers und Stoikers Marc Aurel, die ihm zur Konfirmation geschenkt wurden, Immanuel Kants Kategorischer Imperativ sowie sein Werk Zum Ewigen Frieden, das ihm laut Schwelien zur Richtschnur politischen Handelns wurde, Max Webers Politik als Beruf, Karl Dietrich Brachers Die Auflösung der Weimarer Republik und Die nationalsozialistische Machtergreifung, die Ideen von Karl Popper (ev. erst in den 1970er Jahren) und nicht zuletzt Richard Löwenthals Jenseits des Kapitalismus, das Schwelien als „die politische Bibel des jungen sozialdemokratischen Referenten“ bezeichnet.

In seinem Buch Weggefährten geht Schmidt unter anderem auf seinen Mentor Hans Bohnenkamp und seine Freunde Willi Berkhan und Kurt Körber ein. Der Unternehmer Körber hatte in seinen Hauni-Werken früh moderne Führungs- und Managementmethoden sowie die Mitbestimmung eingeführt. Körber beteiligte die Belegschaft in 20 Jahren mit 160 Millionen Mark an den Unternehmensgewinnen. Für Schmidt war Körber das unternehmerische Vorbild schlechthin (Schwelien).

Der 1996 wegen Landesverrat verurteilte Karl Wienand gehört nicht zu den Weggefährten. Daher erwähnt ihn Schmidt im gleichnamigen Buch nur in einer Fussnote: „Für mich ist Landesverrat durch Karl Wienand undenkbar.“ Laut Schwelien urteilte Schmidt, Wienand habe bestenfalls Interna der SPD ausgeplaudert und Stimmungsberichte geliefert, in einer Zeit, in der man Vertrauen zwischen SED und SPD schaffen wollte.

Literatur, Quellen für diesen Artikel

Michael Schwelien: Helmut Schmidt. Ein Leben für den Frieden. Hoffmann und Campe, 2003, 367 S. Biografie bestellen bei Amazon.de. Die Hauptquelle für den nebenstehenden Artikel. Schwelien zog für sein Werk nicht nur die Literatur von und über Helmut Schmidt zu Rate, sondern interviewte den gesundheitlich angeschlagen Altkanzler stundenlang. Dazu kamen noch Gespräche mit rund einem Dutzend Zeitzeugen. Schwelien erhielt auch Zugang zum Privatarchiv des Altkanzlers. Darüber hinaus hat er allerdings keine weiteren Quellenstudien betrieben; die offiziellen Akten zu den Kanzlerjahren 1974-82 sind ohnehin noch teilweise unter Verschluss. Die Biografie von Schwelien ist ein journalistisches, kein wissenschaftliches Werk. Es kann nur eine von vielen Vorarbeiten zur „definitiven“, später einmal zu schreibenden Biographie sein. Positiv sei hier vermerkt, dass Schwelien kein apologetisches Werk geschrieben hat. Die Gefahr bestand durchaus, da der Redaktor über seinen Chef schrieb, denn Helmut Schmidt ist seit 1983 Mitherausgeber der Zeit. Zwar beschreibt Schwelien in seinem Vorwort Schmidt als „fähigsten und intelligentesten Kanzler, den die Bundesrepublik Deutschland je hatte.“ Doch in der Folge äussert er sich wiederholt kritisch und bewahrt Distanz. Schwelien schreibt auch, die Kehrseite von Schmidts „ungeheurer Auffassungsgabe ist seine Ungeduld, die seines Pflichtbewusstseins die Arroganz.“ Schmidts Persönlichkeit bezeichnet er als widersprüchlich. Mal betont er, er sei nie bescheiden gewesen, mal stellt er sein Licht demonstrativ unter den Scheffel. Mal beklagt er die Dummheit der anderen Staatschef, um danach wieder ihre Weitsicht zu loben. Für Schwelien ein Ausdruck von Unsicherheit über Deutschlands Rolle in der Welt [und wohl auch von Schmidts Unsicherheit].

Martin Rupps: Helmut Schmidt. Eine politische Biografie. Verlag Hohenheim, Stuttgart, 2002, 488 S. Biographie bestellen bei Amazon.de. Martin Rupps hat sich bereits in seiner 1997 erschienen Dissertation mit Helmut Schmidt befasst. Die wissenschaftliche Arbeit hat er nun zu einem leichter lesbaren Werk verarbeitet.

Hartmut Soell: Helmut Schmidt. Band I: 1918-1969. Vernunft und Leidenschaft. DVA, München, 2003, 958 S. Biografie bestellen bei Amazon.de. Dies ist der erste einer auf zwei Teile angelegten Biografie. Soell kennt den Altkanzler aus der Nähe, denn er war Mitarbeiter des Fraktionsvorsitzenden Helmut Schmidt. Die epische Breite der Darstellung bringt dem Leser das Umfeld und die Zeitumstände, in denen Schmidt aufwuchs und später Politik machte, näher. Dabei wird leider der Mensch und Politiker Schmidt öfters in den Hintergrund gedrängt bzw. das Wesentliche verschwindet in der Fülle von Protokollen, Reden, Aufsätzen und Büchern des Protagonisten. Das Werk von Soell ist jenen zu empfehlen, die sich auch für den Kontext sowie langatmige Details interessieren. Der Vorteil: Man kann sich auch sein eigenes Urteil bilden.

Erinnerungen, Manifeste und andere Werke von Helmut Schmidt
– Verteidigung oder Vergeltung, Stuttgart 1961.
– Menschen und Mächte, Berlin, 1987.
– Die Deutschen und ihre Nachbarn, 1990.
– Politischer Rückblick auf eine unpolitische Jugend, 1991.
– Handeln für Deutschland, Berlin, 1993.
– Zur Lage der Nation, 1994.
– Weggefährten – Erinnerungen und Reflexionen, Berlin 1996.
– Auf der Suche nach einer öffentlichen Moral, 1998.
– Globalisierung. Politische, ökonomische und kulturelle Herausforderungen, 1998.
– Kindheit und Jugend unter Hitler, Sammelband, Berlin, 1998.
– Hand aufs Herz – Helmut Schmidt im Gespräch mit Sandra Maischberger, München, 2002.