Ibrahim Ferrer

Okt 04, 2004 at 00:00 2081

Ibrahim Ferer ist gestorben. Biografie des Sängers, der mit dem Buena Vista Social Club weltbekannt wurde.

Gestern Samstag, am 6. August 2005, ist Ibrahim Ferrer im Alter von 78 Jahren auf Kuba gestorben. Er war wenige Tage zuvor erst von einer einmonatigen Europatournee zurückgekehrt. Nachdem er 1991 frustriert mit dem Singen aufgehört hatte, „wieder-entdeckte“ ihn Ry Cooder Mitte der 1990er Jahre. So hatte er das Glück, in hohem Alter noch ein Star zu werden, die Welt zu bereisen und zu geniessen. Die CD zum Film Buena Vista Social Club verkaufte sich über vier Millionen Mal [hinzugefügt am 7.8.2005].

Biografie von Ibrahim Ferrer

Von allen Musikerpersönlichkeiten des Buena Vista Social Club schien Ibrahim Ferrer zu­nächst am wenigsten geeignet, als internationaler Superstar hervorzutreten. Mit seinem sanften, freundlichen Wesen und der bezaubernden Stimme sang er in vielen legendären Bands auf Kuba, ohne jemals als Solo-Künstler Karriere zu machen. Doch bereits während der ersten Auslandsreisen, so 1996 mit den Afro-Cuban All Stars und Rubén González, wurde seine drahtige Gestalt mit der Schiebermütze zu einem unverkennbaren Insignum des BUENA VISTA SOCIAL CLUB . In den nächsten Jahren sollte Ibrahim in den größten Konzert­hallen dieser Welt zu Gast sein – Royal Albert Hall, Sydney Opera House, Orchard Hall in Tokyo. Er erhielt begeisterte Ova­tionen des Publikums, für das er Herz und Seele des Buena Vista Phänomens verkörperte.

Eine Begebenheit zeigt, wie groß die Berühmtheit Ibrahim Ferrers mittlerweise ist: Vor zwei Jahren war er zusammen mit Rubén González und Omara Portuondo auf einer sehr erfolg­reichen Japan Tournee – alle, jeweils über 10.000 Zuschauer fassenden Konzerthallen waren ausverkauft. An einem freien Tag spazierte Ferrer durch die Innenstadt Tokyos, da er einen Kimono kaufen wollte. Die Folgen waren genauso unerwartet wie aufschlußreich – der Ver­kehr kam praktisch zum Erliegen, als sich von Ehrfurcht ergriffene Passanten, Geschäfts­leute wie Büroangestellte, näherten und aufgeregt nach einem Autogramm fragten. Dieses Fan-Verhalten hätte man eher bei einem amerikanischen Popstar erwartet, als bei einem über 70-jährigen kubanischen Sänger.

Aber vielleicht war es angesichts seines märchenhaften Lebenslaufes schlichtweg unver­meidlich, dass Ferrer ein Weltstar geworden ist. Geboren wurde er 1927 in der Nähe von Santiago, im Osten Kubas, dem Teil der Insel, der die meisten kubanischen Musikrichtungen hervorbrachte, u.a. den traditionellen son oder den eleganten europäisch beeinflussten danzon. Die Umstände seiner Geburt spiegeln die Mischung aus Kampf und Erfolg wider, die sein Leben begleiteten: seine Mutter bekam die Wehen in einem Nachtclub.

In seiner Kindheit starb er fast an Tetanus. Im Alter von 12 Jahren – als seine Mutter starb – nahm er sich fest vor, Arzt zu werden. Letztendlich mußte er jedoch Süssigkeiten und Popcorn auf der Straße verkaufen, um zu überleben. Ein Jahr später gründeten Ferrer und sein Cousin eine Band, Los Jóvenes del Son (The Young Men of Son), um auf Parties in der Nachbarschaft zu spielen. Bei ihrem ersten Auftritt verdienten sie einen Peso fünzig – „und ich fühlte mich wie ein Millionär!“ erzählt Ferrer. Er sang weiterhin in verschiedenen lokalen Bands wie Conjunto Sorpresa, Conjunto Wilson und Pacho Alonso’s Maravilla de Beltran.

Im Jahre 1955 landete er einen Hit mit ‘El platanar de Bartolo’ (Bartolo’s Banana Field), zusammen mit dem Orquestra Chepín-Chóven, Santiagos Spitzenreiter. Dadurch erlangte er lokalen Bekanntheitsgrad, aber das Lied wurde international ohne seinen Namen veröffentlicht. „Wäre mein Name bekannt geworden, wäre ich aus dem Häuschen gewesen“, sagte er, aber das war nicht der Fall. „Aber so blieb mir wenigstens die Gewissheit, daß das Lied beim Publikum ankam.“

Als er 1957 nach Havanna ging, arbeitete er mit dem legendären Orquesta Ritmo Oriental und dem großartigen Beny Moré – vielleicht der herausragendste kubanische Musiker des zwanzigsten Jahrhunderts. Darauf folgte eine erneute Vereinigung mit Pacho Alonsos Band, die sich ebenfalls in Havanna aufhielt. Die Gruppe nannte sich Los Bocucos, nach einer Trommel, die im Karneval von Santiago ihren Einsatz findet.

Während all dieser Versuche musikalischer Selbstfindung, wurden Ferrer hauptsächlich guarachassones und andere up-tempo Songs zugewiesen. Sein Herz jedoch hing an der klassischen, tiefgründigen Ballade – dem bolero. „Aber man hat mir immer gesagt, dafür wäre ich nicht gut genug, meine Stimme wäre gerade ausreichend für Tanzmusik,“ erzählt er.

Ferrer glaubte, seine musikalische Karriere sei bestimmt von einer Mischung aus Pech und Unterschätzung durch seine Musikerkollegen. „Ich fühlte, dass ich mit Pacho Alonso und Beny Moré etwas wichtiges tat, aber ich stand immer im Hintergrund. Ich fühlte die Liebe des Publikums, aber nicht die meiner Kollegen. Lieder, die wie für mich gemacht waren, blieben anderen Interpreten vorbehalten.“ Als er letztendlich einen Hit-Bolero, ‘Santa Cecilia’, singen sollte, verschwanden die Begleitnoten für das Piano auf mysteriöse Weise. Und obwohl eines seiner Lieder, ‘La historia de Benetín’, im Fernsehen bekannt wurde, sagten ihm seine Band­mitglieder, das Lied sei Unfug. Er fühlte sich derart gedemütigt, daß er sich schwor, dieses Lied niemals wieder zu singen. „Diese Enttäuschung hat mich für immer gebrandmarkt. Damals verlor ich meine Musikbegeisterung.“ Er glaubte sogar, daß ein Fluch auf ihm läge.

Aber das Leben hielt noch so einige Höhepunkte parat. 1962 bereisten Los Bocucos die sozialistischen Länder und spielten auf der ‘Fête de l’Humanité’ der Französischen Kommunistischen Partei in Paris, bei der Verno-Ausstellung in Prag und nicht zuletzt in Moskaus Bolschoi Theater. Ferrer wurde im Hafen von Talinn mit zweihundert russischen Seglern fotografiert und saß auf dem Höhepunkt der ‘Kubakrise‘ während eines Banketts neben dem sowjetischen Staatschef Nikita Chruschtschow. „Er war ein netter Mann,“ sagt Ferrer. „Klein, mit einer glänzenden Glatze. Aber wir waren seit zwei Monaten auf Tour und hatten keinerlei Nachrichten gehört. Wir hatten also keine Vorstellung, was gerade passierte.“ Ferrer verblieb mit Los Bocucos bis zu seinem Ausstieg 1991. Als er das Musikgeschäft hinter sich ließ, war er erleichtert, obwohl er jetzt wieder auf der Straße war, Lottoscheine verkaufte und Schuhe putzte, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Dann, eines Nachmittags – sieben Jahre später – während einer Buena Vista Session, fragte Ry Cooder, ob es eine sanfte Stimme für den Bolero gäbe. Juan de Marcos González, der Musical Director von Sierra Maestra und A & R Consultant der Buena Vista Sessions, erinner­te sich sofort an Ibrahim und bat ihn zu Hause um eine Aufnahme. „Eigentlich war ich nicht interessiert,“ sagt Ferrer. „Ich hatte genug gelitten durch die Musik. Ich fühlte mich… ich weiß nicht, wie ich es sagen soll… enttäuscht durch mein musikalisches Leben. Aber er ließ nicht locker, bis ich zusagte, die Nummer mit ihm aufzunehmen. Ich sagte ihm, ich könne ohne ein Bad nirgendwo hingehen. Die Antwort war ‚Nein, nein, wir machen die Aufnahmen jetzt!‘ Also verließ ich die ungeputzten Schuhe und folgte ihm zu den Egrem Studios. Als ich ankam, traf ich Rubén González zusammen mit Compay Segundo, Eliades Ochoa, Barbarito Torres, ‘Guajiro’ Mirabal… Leute, die ich mein Leben lang bewundert habe. Ich summte vor mich hin, während Rubén González am Klavier improvisierte, und zu meiner Überraschung konnte ich ihm folgen. Eliades Ochoa sah mich und begann das Faustino Oramas–Lied zu spielen, welches ich ‘Ay Candela’ nannte. Ry Cooder und Nick Gold waren im Kontrollraum. Ich wußte nicht, wer sie waren, aber mir schien, sie mochten meine Stimme. Und als ich den Bolero ‘Dos gardenias’ sang, wurden sie wirklich auf mich aufmerksam. Ich kann immer noch nicht glauben, daß ich dorthin ging, um nur eine Nummer aufzunehmen und letztendlich sang ich fast alle. Und ich wurde zum Bolero–Sänger auserwählt!“

Ferrer sang auf dem für den Grammy nominierten Album der ‘Afro-Cuban All Stars’ sowie auf  ‘Buena Vista Social Club’, das einen Grammy gewann und sich weltweit über 5 Millionen Mal verkaufte. Sein darauf folgendes Soloalbum ‘Buena Vista Social Club presents: Ibrahim Ferrer’ hat sich inzwischen 1.5 Millionen Mal verkauft. Von Ry Cooder produziert, demon­striert es seine einzigartige Fähigkeit zu rhythmischer Improvisation und – vielleicht noch wichtiger – seine absolute Meisterschaft des Boleros – vor allem zu hören in ‘Silencio’, dem rauchigen Duett mit Omara Portuondo.

In den letzten vier Jahren hat Ferrer die Welt nahezu ununterbrochen bereist. Seine Begleit­band ist „ein wahr gewordener Traum“ mit Musikern wie Guajiro’ Mirabal – „der beste Trom­peter, den ich jemals gesehen habe“ – und Cachaíto López, der allgemein als der beste Bassist Kubas angesehen wird. „28.000 Menschen tanzten in München im Regen,“ lacht Ibrahim. „Wo auch immer wir hingehen, schreien die Frauen. Eine fiel sogar in Ohnmacht. Eine andere gab mir ihr tränendurchtränktes Taschentuch, wiederum eine andere ihren Verlobungsring…. Die Leute fragen mich, was das Geheimnis des Buena Vista Social Club ist, und ich antworte ihnen, daß es einfach die Freude ist, die wir am Zusammenspiel haben.“

Ferrer hat nun alle getroffen, von Bruce Willis, Ricky Martin über den Präsidenten von Island und – am wichtigsten –  Fidel Castro. „Der Tag, an dem er meine Hand schüttelte, war einer der wichtigsten in meinem Leben,“ sagt er. Er zog aus seiner winzigen Wohnung im alten Viertel von Havanna in ein großes Haus. Er hat ein Auto und kann seine Enkel- und Groß­enkelkinder versorgen, wie es sich jeder Kubaner erträumt. Seine Stimme für einen Song auf Damon Albarns ‘Gorillaz’ Hitalbum zu geben oder auf Spanisch die Wolof-Texte für das neue Orchestra Baobab-Album zu singen sind Dinge, die er in Kauf nimmt. Seine Offenheit anderen Menschen und ihrer Musik gegenüber und sein wundervolles Talent erlauben ihm, seinen eigenen Stil mit fast jeder Musikform zu vermischen.

Trotz dieses offensichtlichen Erfolges beschreibt Nick Gold ihn als „den spirituellsten der Buena Vistas“. Im Eingangsbereich seiner Wohnung unterhält er einen Altar für San Lázaro – den Heiligen, der Babalú-Ayé repräsentiert, der Schutzpatron in der afro-kubanischen Religion Santería – und er trägt ständig einen geschnitzten Elfenbeinstock mit sich, der seiner Mutter gehörte. „Manche Leute denken, es ist Aberglaube,“ sagt er, „aber ich glaube in guten und in schlechten Zeiten.“

Daß dies gute Zeiten sind, sieht man an den goldenen Schallplatten, die in seinem Haus eine ganze Wand bedecken. „Es sieht aus, als ob das Leben für mich ewig darauf gewartet hätte. Vor zwanzig Jahren nahm ich ein Lied namens ‘¿Cuando me toca a mí?’ (Wann bin ich dran?) auf. Das Lied wurde mir von meiner Band genommen und einem anderen Sänger gegeben. Aber jetzt bin ich dran. Der Sänger, der nicht gut war, hat sich bewährt – der Fluch wurde von mir genommen.“

Sheet music / Musiknoten des Buena Vista Social Club.


Das aktuelle Album des kubanischen Sängers Ibrahim Ferrer: Buenos Hermanos. World Circuit/RecRec, 2003. CD bestellen bei Amazon.de, Amazon.co.uk.

Sheet music / Musiknoten des Buena Vista Social Club.


Ibrahim Ferrer. Foto Wikipedia: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ibrahim_ferrer.jpg

Artikel vom 4. Oktober 2004